Interview mit Renaud Barbaras

Leyla Sophie Gleissner, Marianne Berlie (Übersetzung)

11th March 2025

*Das Interview wurde im Jahr 2021 geführt.


LSG: Ich danke Ihnen, Renaud Barbaras, für die Zeit, die Sie sich nehmen, um Ihr Werk für den deutschen phänomenologischen Kontext greifbar zu machen. In diesem Kontext möchte ich Sie zunächst bitten, Ihre Arbeit zu situieren. Sie sind eine wichtige Figur der zeitgenössischen französischen Phänomenologie. Können Sie uns eine Synthese ihres philosophischen Weges aufzeigen und dabei deutlich machen, welche Rolle die Phänomenologie darin gespielt hat?


RB: Mein Weg ist durchaus in der phänomenologischen Bewegung verankert. Mein Ausgangspunkt war Merleau-Ponty, dem ich zwei Bücher gewidmet habe. Dann bin ich auf das Werk Patočkas gestoßen, dem ich ebenfalls zwei Bücher gewidmet habe und der eine sehr wichtige Rolle in der Entwicklung meiner eigenen Arbeit im Laufe der letzten zwanzig Jahren gespielt hat. Meine Forschung nimmt als Ansatzpunkt das, was nach dem Zugeständnis von Husserl selbst den minimalen Rahmen der Phänomenologie ausmacht, und zwar das universale Korrelationsapriori zwischen dem transzendenten Seienden und seine subjektiven Gegebenheitsmodi. Das heißt einerseits, dass der Seinssinn des Seienden seine Erscheinung – und damit sein Verhältnis zu einem Bewusstsein einschließt, was die phänomenologische epoché herauszustellen ermöglicht, andererseits, dass das Wesen des Bewusstseins sein Verhältnis zu einem Anderen als sich selbst impliziert, was das Konzept der Intentionalität beinhaltet. Meine Frage war also zu verstehen, unter welchen Bedingungen diese Korrelation denkbar wäre. Diese Frage war insbesondere durch die Feststellung motiviert, dass zumindest bei Husserl die Bestimmung der beiden Pole der Korrelation von substanzialistischen Annahmen abhängig war, die die Möglichkeit eines vollständigen, d. h. radikalen Verständnisses der Korrelation gefährdeten. Die Husserl’sche Vorgehensweise ist gleichzeitig objektivistisch und subjektivistisch, wobei das eine wegen des anderen gilt. Man muss sich also von jeglicher Verdinglichung des Bewusstseins befreien, eine Verdinglichung, die nach Husserl die Voraussetzung des Philosophierens selbst ist. Mit anderen Worten ging es darum, die beiden Pole der Korrelation von der Korrelation selbst aus zu denken, ohne dass etwas anderes als diese Beziehung vorausgesetzt wird – die Beziehung, deren anderer Name der der Phänomenalität ist. Nun bedeutet Beziehung, zumindest in diesem Kontext, sowohl ontologische Gemeinsamkeit als auch Differenz. Das Bewusstsein könnte sich der Welt nicht öffnen, wenn es nicht bereits auf seiner Seite wäre, nicht von ihr wäre, wie Merleau-Ponty sagt. Denn jedes Erkenntnisverhältnis setzt ein Seinsverhältnis voraus. Jedoch existiert das Bewusstsein nicht wie die anderen Dinge der Welt, denn es lässt sie erscheinen.

Die Frage war also, wie das Subjekt (der Korrelation) gleichzeitig zur Welt gehören und sich von ihr unterscheiden könne, indem es die Welt erscheinen lässt. Dies lief darauf hinaus, die ursprüngliche Einheit des empirischen und des transzendentalen Subjekts jenseits ihrer Unterscheidung zu suchen, oder vielmehr eine Ebene zu finden, die tiefer geht als diese Differenz. Dieses theoretische Gleichnis konnte ich auf der Ebene der Bewegung lösen, insofern als der Seinsmodus der Bewegung sich radikal von demjenigen des Seienden unterscheidet. Er ist in gewisser Weise dessen aktive Negation und bewegt sich doch notwendig auf einem Boden, wodurch er der Welt tief angehört. Daher war ich zu der Entwicklung dessen veranlasst, was ich eine dynamische Phänomenologie genannt habe, welche die Bewegung als den Seinsmodus des Seienden, das wir sind, wieder erfasst. Diese Bewegung ist natürlich keine einfache Verschiebung, sie umhüllt eine Phänomenalisierung, erleuchtet ihren Weg, ist eine „sehende Kraft“ (force voyante) wie Patočka es nennt. Sie ist mehr als eine Verschiebung und weniger als eine Repräsentation: Sie lässt ihr Ende erscheinen, indem es sich diesem zuwendet. Ich habe gezeigt, dass diese Bewegung keine andere als diejenige des Lebens selbst sein kann, und konnte dabei feststellen, dass die Phänomenologie, indem sie von dem Korrelations-Apriori geleitet wird, notwendig eine Phänomenologie des Lebens ist. Ich bin schließlich dazu übergegangen, diese Bewegung als Begehren (désir) zu charakterisieren, da sie kein endgültiges Ende hat; da der Zugang zu ihrem Ziel sie wieder aufbrechen lässt und da sie sich von dem nährt, was sie befriedigt. Es folgte eine Charakterisierung der Welt als Tiefe: Letztere entzieht sich nämlich der Intuition und wird nur einem Subjekt gegeben, das sie durchdringt, wobei ihr unendlich offener Charakter der konstitutiven Unzufriedenheit des Begehrens entspricht. So öffnet sich die Tiefe nur einer prinzipiell unabschließbaren Bewegung: Die dynamische Beziehung von Begehren und Tiefe (und nicht mehr die statische Beziehung von Bewusstsein und Objekt) erscheint nun als die exakte Formel der Korrelation.

Dieser erste Ansatz musste jedoch überwunden werden, da die lebendige Bewegung aufgrund ihrer grundlegenden Zusammengehörigkeit (appartenance) als ontologische Zeugin der Welt fungiert, in der sie sich entfaltet. Die Beweglichkeit des Lebendigen geht auf eine originäre Beweglichkeit zurück, auf eine Urbewegung, die ihr vorangeht und in welche sie sich einfügt: man beginnt nicht mit der Bewegung, sondern ist immer in der Bewegung. Das heißt, dass man von einer noch statischen Vorstellung der Welt als Tiefe zu einem dynamischen Ansatz der Welt als Quelle der Mobilität übergehen musste. Daraus ergibt sich die Notwendigkeit einer phänomenologischen Dynamik, wie ich es nenne, die in Wirklichkeit der andere Name der phänomenologischen Kosmologie ist, sowie Fink und Patočka sie skizziert haben. Es ging mir also darum, ein Welt-Werden hervorzuheben, das die Form eines Differenzierungsprozesses – und so der Individuierung der Seienden annimmt. Das wiederum entspricht gleichzeitig dem Prozess der proto-Phänomenalisierung: Ich habe in der Tat gezeigt, dass die Bedingung der Seiendheit (étantité) des Seienden ipso facto diejenige seiner Phänomenalität ist. Die Welt ist die unaufhaltsame Quelle der Mannigfaltigkeit, in der die Einheit der Quelle sich unter der Form der Totalität sedimentiert. Seiende werden aus diesem originären Prozess geboren und aus diesem ursprünglichen Werden geht ihre eigene Beweglichkeit vor. Mit anderen Worten: Die Welt ist die Quelle ihres eigenen Erscheinens. Sie phänomenalisiert sich selbst durch jedes Seiende, das in ihr auftaucht, Diese regressive Analyse, die mich von den lebendigen Wesen zu ihrer dynamischen Quelle führte, schien mir jedoch durch einen progressiven Ansatz ergänzt werden zu müssen, der von der Welt zur Dynamik des Lebendigen aufsteigt, mit anderen Worten, der die Trennung der lebendigen Subjekte nach dem Aufzeigen ihrer originären Zugehörigkeit wiedergibt. Diese Vorgehensweise hat mich dazu geführt, das Konzept des Urereignisses (archi-événement) einzuführen. Dies geschah, um die Spaltung innerhalb der Welt, durch welche sie Subjekte hervorbringt, zu erfassen oder vielmehr zu benennen (denn das Ereignis ist ohne Ursache und ohne Grund). Die Seinsbedingung der Subjekte wiederum ist das Exil.

Ich werde das nicht ausführen, aber nach der Veröffentlichung von Dynamique de la manifestation, und den beiden Büchern, die ihm folgen (Métaphysique du sentiment und Le désir et le monde), bin ich mir allmählich dessen bewusst geworden, dass ich zwar den Begriff des Subjekts auf alle Lebewesen ausgeweitet habe, dass ich aber trotzdem in einer Art Subjektivismus – und damit auch in einem Dualismus, dieses Mal zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem, gefangen blieb. Neben der notwendigen Zugehörigkeit (appartenance) des Subjekts zu anderen Weltseienden, ging ich auch von der Differenz des Subjekts zu jenen aus. Dabei stellte diese Differenz, meiner Überzeugung nach, die Bedingung der phänomenalisierenden Kraft des Subjekts dar.

Die Konsequenz davon war, dass der Körper – eine Thematik, die im Zentrum meiner Interessen in meinen Arbeiten zu Merleau-Ponty und Patočka war – keinen befriedigenden Platz in dieser Konzeption finden konnte. Schließlich ist der Körper zugleich als sensibles Sein (Leib) vor [devant] der Welt und als Körper Teil der Welt. Schlussendlich war es der Ausgangspunkt selber, nämlich das Korrelationsapriori zwischen Subjekt und Welt, welcher, wenigstens in dieser Form, in Frage gestellt werde. Diesem Thema widmet sich das Buch, L’appartenance, Vers une cosmologie phénoménologique.


LSG: Sie haben unter anderem das Werk von Maurice Merleau-Ponty wieder in den zeitgenössischen französischen phänomenologischen Diskurs eingeführt. In Ihrem Buch L' appartenance. Vers une cosmologie phénomenologique (Peeters 2019), aus einer Vorlesung im UCL Louvain im Jahre 2019, gehen Sie erneut auf Ihre Lektüre von Merleau-Ponty ein: Es geht dabei um eine kritische Perspektive auf seine Arbeit. Sie befragen insbesondere seine Definition des Körpers und des Leibes (chair). Ihnen zufolge hat Merleau-Ponty den Dualismus zwischen Leib und Seele, Subjekt und Objekt, nicht ganz überwunden. Der Körper ist, wie sie es in diesem Text darlegen, „eine Frage“, die durch die Philosophie wie „eine Antwort“ behandelt wird. Welches ist, nach Ihnen, das dualistische Erbe der Phänomenologie, insbesondere der Merleau-Ponty’sche Phänomenologie?


RB: Ihre Frage ermöglicht es mir, die letztere weiterzuentwickeln. Tatsächlich scheint mir, dass, wenn Merleau-Ponty durch seine Theorie des Leibes, skizziert, was es zu denken gilt, nämlich eine Zugehörigkeit (appartenance) des Subjekts zur Welt, die der Subjektivität (der Phänomenalisierungsmacht) nicht im Wege steht, sondern im Gegenteil seine Bedingung ist, er schließlich im Subjektivismus und also auch im Dualismus gefangen bleibt.

In der Tat, nachdem er die Notwendigkeit herausgestellt hat, meinen Leib als in den Leib der Welt eingeschrieben zu denken, wobei dieser Leib der Welt demnach also geeignet ist, meinen Leib entstehen zu lassen, fügt er hinzu, dass „der Leib der Welt kein sich Fühlen wie mein Leib [ist]“ („La chair du monde n’est pas se sentir comme ma chair“, Le visible et l’invisible, p. 304). Man merkt also, dass der Ausdruck „Leib der Welt“ einen bloßen metaphorischen Sinn hat und dass die ontologische Eindeutigkeit, auf die sie hinzuweisen scheint, der Dualität zwischen meinem Leib und der Welt untergeordnet ist. Doch den Körper konsequent zu denken heißt stattdessen zu verstehen, in welchen Weisen seine Körperlichkeit seiner Meinigkeit nicht widerspricht, das heißt, dass also die Zugehörigkeit zur Welt, sich keinesfalls von der Subjektivität unterscheidet, sondern eher deren eigentliche Bedingung ist. Es geht darum, eine wirkliche Eindeutigkeit des Leibes zu denken und zu verstehen, dass der Leib der Welt und mein Leib derselbe Leib sind – sodass dass das Subjekt aufgrund und nicht länger trotz seiner Zugehörigkeit zur Welt Subjekt ist.

Nur unter dieser Bedingung ist es möglich zu verstehen, dass in sich und außer sich Treten (entrer en soi et sortir de soi) wie Merleau-Ponty es zu sagen pflegte, das gleiche sind. Mit diesem Punkt grenze ich mich natürlich von meiner früheren Perspektive ab, da ich jetzt behaupte, dass die Differenz, die für mich das Subjekt kennzeichnete, nicht mehr von der Zugehörigkeit (appartenance) unterschieden werden sollte. Ganz im Gegenteil: die Differenz ist nur eine Modalität der Zugehörigkeit. Kurzum, der Grundgedanke, mit dem ich mich von meinen früheren Büchern entfernt habe und der nun den Kompass meiner Forschung bildet, ist, dass ein Subjekt aufgrund und im Verhältnis zu seiner Verwurzelung in der Welt, und nicht mehr aufgrund seiner Trennung von ihr, die Welt erscheinen lassen kann.

Ich habe diese neue Perspektive eingenommen, als ich feststellte, dass die Frage des Körpers deshalb so schwierig ist, und meist in eine Sackgasse führt, weil sie nicht ein Problem, sondern bereits eine Lösung darstellt – eine Lösung für ein Problem, das unterschwellig und meist unausgesprochen bleibt, nämlich das Problem der Zugehörigkeit. Mit anderen Worten gehöre ich nicht zur Welt, weil ich einen Körper habe, sondern, indem ich der Welt zugehöre, habe ich einen Körper. Wenn man anders vorgeht, wenn man mit dem Körper beginnt, um die Zugehörigkeit zu denken, versteht man sie notwendigerweise wie eine objektive Einbeziehung in einen extensiven Raum, die Besetzung eines Platzes. Somit wird man unvermeidlich dazu gebracht, den Leib vom Körper zu unterscheiden, und so, zusammengefasst, in den Dualismus zurückzufallen.

Anstatt also von der Unterscheidung zwischen Differenz und Zugehörigkeit auszugehen, um zu versuchen ihre Einheit zu denken, gehe ich nun von der Zugehörigkeit als Seinsrichtung jedes Seienden aus, um daraus die „subjektive“ Differenz selbst abzuleiten. Daraus folgt, dass sich die Seienden von nun an nur noch durch die Modalität ihrer Zugehörigkeit unterscheiden, die ihrerseits nur auf einen Tiefengrad dieser Zugehörigkeit verweisen kann. Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt oder von Lebendigem und Nichtlebendigem zugunsten der Modi der Zugehörigkeit, von denen ich zeigen möchte, dass sie alle zugleich Modi der Phänomenalisierung sind, ist also umso mächtiger, je tiefer die Zugehörigkeit ist. In der Tat impliziert jedes Erkenntnisverhältnis ein Seinsverhältnis, aber das Gegenteil stimmt ebenfalls: jedes Seinsverhältnis impliziert ein Erkenntnisverhältnis. In der Welt sein bedeutet immer sie irgendwie zu haben. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Behauptung, der Seinssinn des Seienden sei die Zugehörigkeit – die ihrerseits als (Selbst-)Phänomenalisierung der Welt verstanden wird –, der Aussage gleichkommt, dass es im Grunde nur Körper gibt (Körper sein = zugehören). Außerdem ist damit gesagt, dass diese Körper allesamt Subjekte sind, Leiber sind, und dies wiederum entsprechend ihrem Grad ihrer Zugehörigkeit – wobei der Subjektivitätsgrad von dem, was ich den Boden/ Grund (sol) nenne, abhängt.


LSG: Sie halten fest, dass jedes philosophische Denken bis zum heutigen Tage eine Ontologie des Todes darstellt. Wie soll diese Feststellung verstanden werden?


RB: Diese Behauptung stammt direkt aus dem großen Werk von Hans Jonas Das Prinzip Leben. Er zeigt nämlich, dass im klassischen Zeitalter auf eine universale Ontologie des Lebens, für die das lebendige Sein die Norm allen Seins und der Tod daher die unerklärliche Ausnahme war, eine Ontologie folgte, für die die Ausnahme, nämlich der Tod, d.h. die leblose Materie, wiederum zur Norm wurde. Diese Veränderung situiert sich im Konvergenzpunkt zwischen einer mechanischen Auffassung des Organismus und einer Bewegung gnostischen Ursprungs, wobei sich für Letztere die menschliche Seele der Welt radikal entzieht. In dieser Ontologie verliert das Leben seine Realität, sobald es sowohl durch Mangel – im Mechanismus – als auch durch Übermaß – in einer akosmischen Innerlichkeit – überwunden wird. Das hat aber einen Einfluss auf die Weise, wie das Leben des Lebenden begriffen wird. Wenn es eine Ausnahme in einem Ozean aus Materie bleibt, wird das Leben des Lebenden, von diesem durch die Gesetze der Physik beherrschten Universum aus, unvermeidlich als Negatives gedacht. Das Leben ist Negierung, Negierung dieser ständigen Bedrohung, die die physische Welt, in die das Leben sich einfügt, darstellt: Es ist ein ständiger Kampf gegen das Risiko des Todes, es ist Überleben. Über die Tatsache hinaus, dass es tautologisch ist (leben heißt sich am Leben erhalten), begreift diese Kennzeichnung das Lebens vom demjenigen aus, das es nicht ist und verfehlt somit seine phänomenologische Besonderheit. Vielleicht sollte man, ähnlich wie Nietzsche und später Goldstein, das Leben als eine Selbstaffirmation denken, statt als Negierung des Todes – als Schöpfung statt als Erhaltung. Es schien mir, dass eine Phänomenologie des Lebens diese Ontologie des Todes neutralisieren sollte, wenn sie das Leben für sich selbst denken wollte. Indem ich also das Leben als Begehren (désir) bezeichne, hebe ich vielmehr die Dimension der Kreation hervor als diejenige der Erhaltung. Insofern jedes Begehren ein Begehren nach sich selbst ist, d.h. das Bedecken eines Seinsfehlers, läuft die Aussage, dass das Leben auf die Welt zugeht, darauf hinaus, dass es in seinem Sein auf die Welt zugeht – eine Welt, von der es notwendigerweise getrennt ist. Das Leben ist eher eine ontologische Suche als Selbsterhaltung – vielmehr Behauptung zu sein als Behauptung des Seins.


LSG: Es muss hinzugefügt werden, dass Sie eine Überwindung des etablierten Dualismus zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem vorschlagen, um sich von jeglichem Dualismus zu befreien. Diesen Versuch unternehmen Sie in ihrem Buch über die Appartenance. Könnten Sie uns erklären 1) weshalb Sie davon ausgehen, dass das Denken jedes Seienden von seiner Zugehörigkeit (appartenance) zur Welt aus, es Ihnen ermöglicht, die Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem auszuhebeln? 2) Stimmen Sie mit der Aussage überein, dass eine Beseitigung der Differenz zwischen Lebendem und Nicht-Lebendem eine Definition der umfassenden Subjektivität voraussetzt?


RB: Wenn man, wie ich bereits Gelegenheit hatte zu betonen, das Sein jedes Seienden als Zugehörigkeit zur Welt charakterisiert, so dass die ontologische Differenz zur kosmologischen Differenz wird, und wenn man andererseits anerkennt, dass diese Zugehörigkeit zur Welt eine wie auch immer begrenzte Phänomenalisierung impliziert, muss man zu dem Schluss kommen, dass die Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem, wie auch die Differenz zwischen Tier und Mensch, zumindest als letzte und irreduzible Differenz verschwindet. Es gibt nur noch verschiedene Modi der Zugehörigkeit, die mehr oder weniger weiten Welten entsprechen ¬– und somit ein ontologisches Kontinuum von dem Stein aus bis zum Menschen. Die Eindeutigkeit der Zugehörigkeit gewinnt gegen die traditionellen Dualismen. Das heißt natürlich nicht, dass es keine Differenzen gibt. Aber diese entsprechen schlicht der Weite der Phänomenalisierung, welche selbst zur Tiefe der Zugehörigkeit korrelativ ist. Genauer gesagt bin ich dazu veranlasst worden, drei Dimensionen der Zugehörigkeit zu unterscheiden. Sie entsprechen einer Unterscheidung, die im Französischen vollzogen werden kann: „In der Welt sein“ (être dans le monde) wird von „von der Welt sein“ (être du monde), und „zur Welt sein“ (être au monde) unterschieden. Ersteres bezeichnet einen Standort (site), welcher der Position des Seienden als Seienden entspricht; einer topologischen Bestimmung seines Seiendseins (étantité), das man mit der Perspektive der Monade bei Leibniz vergleichen kann. Zweiteres, das ich Boden nenne (sol), weist auf die Welt als ontologische Konsistenz jedes Seienden und dessen eigenen Ursprungs zurück. In diesem Sinne lässt sich die ontisch-ontologische Differenz als Differenz des Standorts (site) und des Bodens neu formulieren. Schließlich nenne ich den Ort (lieu) das, was durch das Sein entfaltet wird, das Korrelat seiner Phänomenalisierungsbewegung als Versuch, die Distanz und die Spannung zwischen Ort und Boden zu verringern. Daraus folgt, dass jede Phänomenalisierung als Topophanie charakterisiert werden kann, eine Topophanie, von der die dem Menschen und vielleicht auch den Tieren eigenen Kosmophanien nur eine bevorzugte Modalität darstellen. In diesem Sinne entfaltet der Stein seinen Ort selbst von seinem Standort (site) aus, wobei man den Ort (lieu) als Platz (place) bezeichnet, als Platz, der über den Standort hinausgeht. Dies führt mich zur Definition der Bewegung außerhalb von jeglichem Verweis auf das Beweglichsein. Ohne diese bliebe eine unüberbrückbare Differenz zwischen den beweglichen (lebendigen) Seienden und denjenigen, die dessen unfähig sind, bestehen. Die Bewegung bedeutet nichts anderes als die Entfaltung des Ortes selbst: sie ist Topophanie. Dabei ist sie Ereignis („est événement“), denn durch sie, wie man im Französischen sagt, findet etwas statt (quelque chose a lieu), das heißt, etwas hat einen Ort (a un lieu).

Die Konsequenz davon ist die Beseitigung der Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem, nicht durch Rückkehr zur inerten Materie, sondern durch Verallgemeinerung des Lebens, verstanden als Erstehung des Ortes, topophanisches Ereignis. In diesem Sinne besteht mein Ansatz in einer universellen Ontologie des Lebens. Dies entspricht einer Bestimmung der Subjektivität, die den klassischen Auffassungen, auch den phänomenologischen, weit entfernt liegen, da sie jegliche Substanzialität und Immanenz ausschließt: Die Subjektivität definiert sich mit der Entfaltung des Ortes, mit der Topophanie, sie ist also jedem Seienden zu eigen, insofern dieses von seinem Boden durch seinen Standort (site) getrennt wird. Insofern handelt es sich um, wenn ich Sie richtig verstanden habe, eine Auffassung der Subjektivität, die „globalisierend“ ist.


LSG: Wie lässt sich der Subjektivismus überwinden, wenn jedes Seiende subjektiv ist?


RB: Ich würde dazu tendieren, dass wir im Gegenteil dann wirklich aus dem Subjektivismus heraustreten, wenn alles subjektiv ist. In der Tat bedeutet Subjektivismus, zum Beispiel Husserls transzendentaler Subjektivismus vom Jahre 1913, dass der Sinn des Seienden auf die Subjektivität als seine eigene Seinsbedingung zurückverweist – kurzum, dass jedes Seiende in und durch Subjektivität konstituiert wird. Eine solche Stellungnahme macht die Subjektivität zu einem absolut einzigartigen Seienden, das mit anderen nicht vergleichbar ist, und das, folgt man Husserls eigenen Worten in den Ideen, in Wirklichkeit ein Absolutes ist, zu welchem jede Realität relativ ist. In dem Maße, in dem ich auf Subjektivität in diesem starken Sinne verzichte, da es für mich so viele Subjekte wie Seiende gibt, insofern alle ihren Boden (sol) zu erreichen trachten, bin ich also von jeder Form des Subjektivismus denkbar weit entfernt.


LSG: Nach Ihnen bestehen Differenzen unter in der Welt Seienden nur auf deskriptiver, nicht aber auf ontologischer Ebene. Es handelt sich Ihnen zufolge um relative Unterschiede, Unterschiede im Grad der Zugehörigkeit (appartenance) zur Welt oder in unserer Fähigkeit, die Welt zu phänomenalisieren, d.h. sie erscheinen zu lassen. Hier weist Ihr Denken nochmal einen Bruch mit der Philosophie des 20. Jh. auf, welches in weiten Teilen ein Denken der Differenz ist, wie der Verweis auf die Werke Derridas, Deleuzes, Lacans oder Irigarays deutlich macht. Sie hingegen entwickeln ein Denken der Nicht-Differenz, indem Sie feststellen, dass die Differenz zwischen Lebendigem und Nicht-Lebendigem sich nicht in einem ontologischen Verhältnis abspielt.


RB: Das ist natürlich eine ebenso interessante wie umfassende Frage. Wie ich am Anfang festgehalten habe, habe ich lange Zeit die Differenz als Grundzug des Subjekts verstanden, das heißt schließlich als transzendentale Differenz. Meine Frage galt der Bestimmung des Seinsmodus des Subjekts, sodass diese Differenz mit der Zugehörigkeit kompatibel wird, mit anderen Worten, dass die Differenz gleichzeitig Identität ist. Die Frage war also, wie man Differenz und Identität in Einklang bringen kann, wie man eine Identität von Identität und Differenz wiederfassen kann, oder besser gesagt, wie man einen Seinsmodus hervorheben kann, in welchem sich diese Uridentität (der Identität und der Differenz) vollzieht, ein Seinsmodus, der nur derjenige der Bewegung sein kann. Dieser bleibt nämlich nur derselbe, indem er sich unaufhörlich sich von sich selbst differenziert.

Aber ich habe schlussendlich verstanden, dass die Differenz von der Identität nicht unterschieden und ihr entgegengesetzt werden musste, sondern im Gegenteil, dass sie als ein Moment derselben verstanden werden sollte: Die Zugehörigkeit als Identitätsprinzip der Seienden ist zugleich das Prinzip ihrer Verschiedenheit, wenn sie notwendigerweise einen Abstand der Standorte (sites) im Boden impliziert. Die Frage war also eher zu verstehen, wie diese Differenz innerhalb der Identität möglich war, wie die Einheit des Bodens eins mit der Mannigfaltigkeit war, das heißt wie es unmittelbare Identität des Einen und des Mannigfaltigen geben könnte (sowie es Rocco Ronchi in seinem schönen Buch Il canone minore sagt). So war ich dazu veranlasst, eine dynamische und kosmologische Bestimmung des Bodens vorzuschlagen; Quelle der Seienden, durch das Konzept der ewigen Deflagration. Die Seienden entstehen nicht aus dem Nichts – wir haben es nicht mit einer Schöpfung ex nihilo zu tun –, aber das, was sie entstehen lässt, ist kein Ding (chose), da es die Dinge entstehen lässt. Mit anderen Worten, wie Plotin es sagt, gibt die Quelle des Bodens dasjenige, was ihr nicht gehört. Was kann also ihre Seinsweise sein, wenn nicht die der Gabe selbst? Die Quelle produziert nicht, sondern existiert als das Produzieren selbst, sie ist das Produzieren als Sein. Dieses Produzieren ist reines Heraustreten aus sich selbst, absolute Dehiszenz oder auch „Urriss“ („déchirure originaire“, Jeanne Hersch): es bringt die Vielfalt der Seienden hervor und existiert in Wahrheit nur als diese Vervielfältigung selbst. Schließlich muss noch hinzugefügt werden, dass diese Deflagration nicht aus sich selbst heraus in Form von Seienden zurückfällt, die von ihrem Ursprung getrennt sind und daher rein disparat sind; sie bringt Seienden unaufhörlich hervor, sie ist das Ereignis des Erscheinens selbst – als das Aufkommen der Seienden. Aber zu sagen, dass die Deflagration ewig ist, bedeutet anzuerkennen, dass die Seienden immer in ihr zurückgehalten werden, und etwas von ihrer Übermacht (surpuissance) beibehalten: daher ihre grundlegende Beweglichkeit, die Macht, die sie haben, zu ihrem Ursprung zurückzukehren; ihre Quelle zu einem Gegenstand des Begehrens zu machen. Wie Sie sehen, ermöglicht mir dieses Konzept der Deflagration die unmittelbare Identität des Einen und des Mannigfaltigen – und folglich die originäre Identität zwischen der Identität (der Quelle) und allen Differenzen (der Seienden) – zu denken. Diese originäre Identität weist auf dieses absolute Ereignis der Deflagration zurück.


LSG: So wagen Sie es, entgegen der Tendenz des 20. Jahrhunderts (ich denke unter anderen an das Denken Heideggers, aber auch an dasjenige Derridas), die jegliche metaphysischen Begriffe vermeiden will, den Versuch einer expliziten (Wieder)Annäherung der Phänomenologie an die Metaphysik zu unternehmen. 1) In welchem Zusammenhang stehen diese zwei Ebenen in Ihrer Arbeit? und 2) Wie hat sich dieser Zusammenhang im Laufe ihres Werkes entwickelt?


RB: Eigentlich hat sich meine Auffassung in diesem Punkt weiterentwickelt. Zu der Zeit von Dynamique de la manifestation unterschied ich zwischen dem, was zur Kosmologie gehört und dem, was der Metaphysik angehört. Genauer gesagt wies die Kosmologie mir zufolge auf den weltlichen Prozess zurück, den ich Urbewegung oder Urleben (archi-mouvement ou archi-vie) nannte; den Prozess der Individuierung des nicht-lebendigen Seienden durch Differenzierung. Um jedoch das Lebendige zu erfassen, dessen phänomenalisierende Dynamik meines Erachtens nach eine Trennung von der Welt implizierte, in der ihr eigenes Individuationsprinzip bestand, berief ich mich auf das Urereignis (archi-événement) einer Spaltung innerhalb der Welt. Jene Spaltung betraf die Welt, konnte aber nicht deren Quelle sein, da die weltmachende (mondifiante) Kraft als solche jede Negativität ausschließt. Ich schloss daraus, dass dieses Urereignis die Metaphysik betraf – nicht im klassischen Sinne in einer Suche nach Gründen, sondern im Gegenteil, im Sinne des späten Husserls, nämlich als das Aufnehmen einer Urtat (archi-fait) ohne Ursache noch Grund. Wie bereits dargelegt, bezog sich diese Unterscheidung zwischen Urbewegung und Urereignis auf die damals unumstrittene Unterscheidung zwischen Nicht-Lebendigem und Lebendigem, d.h. auf die aufrechterhaltene Dualität zwischen Seienden, die durch und durch zur Welt gehören, und Seienden, eben den Lebenden, die von ihr getrennt sind und deren Phänomenalisierungskraft auf dieser Trennung beruht. Es ist daher verständlich, dass aus meiner heutigen Sicht sowohl diese Unterscheidung als auch die Unterscheidung zwischen Urbewegung und Urereignis und damit die Unterscheidung zwischen Kosmologie und Metaphysik aufgehoben wird. Wenn ich also den Seinssinn des Seienden durch die Zugehörigkeit charakterisiere, befinde ich mich entschieden in einer kosmologischen Perspektive und könnte sagen, dass mein Konzept der Deflagration die Einheit dessen, was zuvor unterschieden wurde (nämlich die Urbewegung und das Urereignis), auf einer streng kosmologischen Ebene wieder erfasst: Die Übermacht der Welt vollzieht sich als unaufhörliches Heraustreten aus sich selbst, ständige Dehiszenz, ontische Selbstnegierung. Das heißt jedoch nicht, dass ich auf Metaphysik verzichte, sondern nur, dass ich ihr den einzigen Sinn gebe, die sie in einem phänomenologischen Rahmen haben kann, nämlich denjenigen einer spekulativen Vorgehensweise, der prinzipiell intuitiver Bestätigung fehlt. In diesem Sinne ist meine Kosmologie eine metaphysische Kosmologie.


LSG: Seit einiger Zeit hat sich Ihre metaphysische Herangehensweise zu einer Kosmologie entwickelt. Eine Kosmologie, wie wir sie seit dem griechischen Denken verstehen, setzt ein totales System voraus, in dem jedes Seiende seinen Platz hat. Das postmoderne Denken, insbesondere aus ethischen, politischen und historischen Gründen, hat sich einem fragmentarischen Denken zugewandt und damit eine solchen kosmologischen Ansatz weitgehend abgeschwächt. Warum sollte man heute darauf zurückkommen?


RB: Mir scheint, dass ich diese Frage in meiner letzten Antwort schon beantwortet habe. Wie Sie es bereits nachvollzogen haben, hat die Rückkehr zur Kosmologie phänomenologische Gründe (was ist das Wesen des Erscheinens?), die selber zu einer ontologischen Frage zurückführen: Das Wesen des Erscheinens ist von einer Phänomenalisierung her zu erfassen, die die Kehrseite der Zugehörigkeit ist, verstanden als Seinssinn des Seienden. Wie Sie sehen, stimmen Ontologie und Kosmologie hier schlicht überein. Ich stimme natürlich mit Ihnen übrein, dass diese Kosmologie zu einer gewissen Idee der Philosophie als Bezugnahme auf die Totalität und als Befragung des Ganzen zurückführt; eine Idee, von der man zumindest sagen kann, dass sie die gegenwärtigen philosophischen Strömungen nicht dominiert. Diese Idee einer Philosophie, die das Ganze zum Gegenstand hat, findet sich bei Hegel und Bergson ebenso wie bei Patočka und Raymond Ruyer. Unnötig zu sagen, dass ich mich voll und ganz in dieser Perspektive sehe.


LSG: Ihr Werk stellt jedoch kein harmonisierendes Denken dar. Ich verweise hier auf Ihren Begriff des Urereignisses (archi-événement), welchen Sie seit einigen Jahren entwickeln. Dieses Urereignis beschreibt den endgültigen Bruch mit einem Ursprung. Genauer gesagt soll unser Ursprung als Bruch gedacht werden, da die Menschen in Ihren Worten exiliert sind. Die Frage, die sich jetzt stellt, ist diejenige nach dem Zusammenhang zwischen dieser unmöglichen Rückkehr zu einem absoluten Ursprung und der Sprache. Ist es nicht gerade die Vermittlung der Natur durch die Sprache, die uns von unserem Ursprung trennt? Wie kann eine ontologische Nicht-Differenz zwischen Lebendem und Nicht-Lebendem gedacht werden, ohne dabei unsere Sprachfähigkeit aufzugeben?


RB: Meine Antwort auf ihre Frage N°7 hat es mir ermöglicht, auf diesen Begriff des Urereignisses zurückzugehen. Die Perspektive, die ich in L’appartenance entwickle, minimiert die Dimension der Trennung deutlich und ist ausgesprochen monistisch. Daraus folgt, auch wenn ich es in dieser Arbeit nicht diskutiere, dass sich der Umgang mit der Sprache notwendigerweise ändert. In Métaphysique du sentiment, in welchem es viel um dieses Thema geht, betone ich die der Sprache innewohnende Trennungskraft, die ich als Ausdruck eines grundlegenden Exils verstehe (ein Exil, für das die Sprache eher die Konsequenz als der Operator ist, wodurch mein Ansatz sich von der Perspektive Lacans unterscheidet) – auch wenn die Sprache, wie ich ebenfalls zeige, auch ein Mittel gegen diese Trennung darstellt. Die Sprache kann in der Tat an ihre eigene Grenze gehen, und die Welt ausdrücken, in die uns das Gefühl einweiht: Das ist insbesondere der Sinn der poetischen Sprache.

Mein letztes Werk führt mich im Gegenteil dazu, die initiierende Kraft der Sprache zu unterstreichen, seine Fähigkeit, das Subjekt aus sich selbst herauszuprojizieren. Wie bereits gesagt ist unsere phänomenalisierende Kraft, durch die die Topophanie zur Geburt einer Welt, ja der objektiven Welt wird, die Kehrseite unserer tiefen Verwurzelung im Boden, das heißt unserer Nähe zur Deflagration. Man sollte die Sprache eher wie das Zeugnis dieser Nähe verstehen, wie die Spur einer tieferen Zugehörigkeit (appartenance): Wir können über die Welt sprechen, weil wir in einem radikaleren Sinne als die Dinge oder die anderen Lebenden Teil von ihr sind. So könnte man zeigen, dass die Sprache zwar eine Bewegung ist, aber das Klangelement, in dem sie sich entfaltet, ihr eine Plastizität und einen Reichtum verleiht, die weit über die anderen Bewegungen hinausgehen; diese Plastizität und diese sozusagen quasi Immaterialität ermöglichen es ihr, den Sinn zu benennen. Im Gegensatz zu den anderen Bewegungen geht die Sprache nicht direkt auf die Welt zu, sie durchdring sie nicht direkt: sie eignet sich die Welt eher an, indem sie in ihr ihren eigenen Sinn übermittelt. Dadurch scheint sie uns von der Welt zu entfernen, eine Trennung zu etablieren. Aber diese Trennung dient einer größeren Nähe. So transzendiert und enthält der Ort, den das sprechende Subjekt entfaltet, die von den anderen Seienden geschaffenen Orte, insofern als die Sprache nicht nur die objektive Welt, sondern auch die idealen Welten ermöglicht. Also kann ich Ihre letzte Frage damit beantworten, dass die Tatsache, dass es keine ontologische Differenz zwischen dem Lebendigem und dem Nicht-Lebendigem, und erst recht nicht zwischen dem Menschen und den anderen Seienden gibt, nicht ausschließt, dass es unterschiedliche Grade der Zugehörigkeit gibt, deren Tiefe sich, im Falle des Menschen, durch die Sprache bekundet.


LSG: Welche Funktion kommt der Phänomenologie – Ihnen zufolge – heute zu?


RB: Zunächst scheint es mir, dass die Phänomenologie, noch bevor sie eine Funktion hat, einen Platz hat, und zwar einen herausragenden Platz, insofern als sie es ist, die hauptsächlich die Fragen der philosophischen Tradition selbst aufgreift. Ich glaube in der Tat, dass die Metaphysik und die Ontologie im Wesentlichen in der Phänomenologie weitergeführt werden. Aber dadurch hat die Phänomenologie auch eine kritische Funktion inne, die ich für wichtig halte. Ihre Art zu fragen und ihre Methode schützen uns vor den Sackgassen und Gefahren, die von den verschiedenen zeitgenössischen Formen des Positivismus, des Objektivismus und des Szientismus ausgehen, die alle im Dienst einer entfremdeten Auffassung des Menschen stehen.