MS: Vielen Dank, Frau Vendrell-Ferran, dass Sie sich die Zeit nehmen, um mit mir über die Phänomenologie der feindlichen Gefühle zu sprechen. Diese häufig tabuisierten Gefühle werden selten thematisiert, obwohl sie jeden betreffen und sowohl unsere zwischenmenschlichen Beziehungen als auch die gesellschaftliche Dynamik nachhaltig beeinflussen. Deshalb freue ich mich umso mehr, im Rahmen dieses Interviews tiefer in Ihre Erkenntnisse eintauchen zu können und mehr über diese komplexen Gefühle zu erfahren.
Zu Beginn eine persönliche Frage: Was hat Sie ursprünglich dazu motiviert, sich mit einem eher ungewöhnlichen Thema, den feindlichen Gefühlen, auseinanderzusetzen? Wie bewerten Sie die aktuelle Relevanz dieses Themas in Anbetracht der heutigen gesellschaftlichen Entwicklungen?
IVF: Es gibt verschiedene Gründe, die mich dazu gebracht haben, mich mit dem Thema zu beschäftigen. Erstens habe ich bereits im Rahmen meiner Dissertation über die Emotionen in der realistischen Phänomenologie die Gelegenheit gehabt, mich mit den Arbeiten über feindliche Gefühle vertraut zu machen, die in dieser Tradition vorgelegt wurden. Konkret denke ich dabei an Schelers Analyse des Ressentiments und Aurel Kolnais Aufsätze über Ekel, Hochmut und Hass, die ich ins Spanische übersetzt und herausgegeben habe. Zweitens habe ich zu jener Zeit auch ein systematisches Interesse an verschiedenen Formen des Bruches des positiven Nexus zur Welt wie etwa Neid oder Hass entwickelt. Heute, wo wir in einer Gesellschaft leben, in der eine wachsende Hass- und Gewaltbereitschaft besteht, und die durch Strukturen des Ressentiments verschiedener Institutionen geprägt ist, scheint mir das Verstehen der Genese und der Dynamiken feindlicher Gefühle hochrelevant.
MS: Wie gestalten Sie Ihre methodische Herangehensweise bei der Untersuchung von feindlichen Gefühlen?
IVF: Für die Untersuchung feindlicher Gefühle sowie von Gefühlen im Allgemeinen wähle ich eine phänomenologische Herangehensweise. Zum einen orientiere ich mich gerne an der Tradition der frühen Phänomenologie, die Pionierarbeit bei der Analyse verschiedener affektiver Phänomene geleistet hat. In dieser Hinsicht lasse ich mich von den Arbeiten Max Schelers, Alexander Pfänders, Else Voigtländers, Moritz Geigers, Edith Steins, Aurel Kolnais, u. a. inspirieren. Ich versuche, diese Arbeiten mit den Ansichten späterer Phänomenologinnen und Phänomenologen von J.P. Sartre und Maurice Merleau-Ponty bis hin zu heutigen Phänomenologinnen und Phänomenologen wie Thomas Fuchs, Hilge Landweer, Dan Zahavi und vielen anderen in Verbindung zu bringen und sie auch im Kontext von Beiträgen anderer philosophischer Traditionen (insbesondere der heutigen analytischen Philosophie) zu lesen. Zum anderen nutze ich phänomenologische Werkzeuge für meine systematischen Analysen. Mein Ziel ist es immer, ausgehend von der Erfahrung eine akkurate Beschreibung verschiedener Gefühlsaspekte zu entwickeln, damit ihre Hauptmerkmale sichtbar werden und die Unterschiede zu vergleichbaren Phänomenen zu Tage treten. Für die Erforschung des affektiven Lebens erscheint mir die phänomenologische Einstellung aufgrund ihrer Erfahrungsnähe und deskriptiven Präzision als besonders geeignet. Darüber hinaus ermöglicht diese Einstellung es uns, uns auf drei grundlegende Aspekte der Gefühle zu konzentrieren: 1.) ihre intentionale Struktur, 2.) ihre evaluative Dimension und die Verbindung zu den Werten sowie 3.) ihre Leiblichkeit und ihren Ausdruck.
MS: Welche spezifischen Merkmale zeichnen feindliche Gefühle aus? Inwieweit lassen sie sich von anderen negativen Gefühlen, in etwa Trauer und Angst, abgrenzen?
IVF: Ein wesentliches Merkmal feindlicher Gefühle wie etwa Neid, Hass, Eifersucht, Verachtung oder Ressentiment besteht darin, dass wir durch sie aggressive Handlungstendenzen gegenüber dem Gefühlsobjekt zeigen. Aggression hat allerdings viele Gesichter. Es gibt ein weites Spektrum von Aggressionsformen. Auf der einen Seite dieses Spektrums stehen gewisse Formen der Ironie, des Zynismus und des Nihilismus; auf der anderen Seite befinden sich direkte körperliche Angriffe, welche auf die Vernichtung des anderen gerichtet sind. Anders als die Aggressionstendenzen, die bei allen feindlichen Gefühlen vorkommen, ist die Vernichtungsintention allerdings kein notwendiges Element feindlicher Gefühle. Es gibt bei feindlichen Gefühlen auch eine Aggression ohne Vernichtungsintention. Daher kann die Aggression manchmal die Vernichtungsintention innehaben, so wie es bei extremen Formen des Neides der Fall ist. Bei anderen feindlichen Gefühlen ist es ausreichend, wenn der andere auf Distanz gebracht wird, wie es etwa für schwache Formen des Neides typisch ist. Der Unterschied zwischen feindlichen Gefühlen, bei denen die Aggression zusammen mit einem Tötungswillen auftritt, und denjenigen, die Aggressionstendenzen ohne Vernichtungsintention enthalten, ist meines Erachtens graduell. Dagegen sind Aggressionstendenzen für negative Gefühle wie etwa Trauer oder Angst nicht kennzeichnend. Wenn Aggressionstendenzen bei diesen anderen Gefühlen auftreten, handelt es sich um ein sekundäres Merkmal, das zusätzlich auftritt. Trauer und Angst sind primär nicht mit Aggression verbunden. Die Trauer zeichnet sich im Wesentlichen dadurch aus, dass wir uns zurückziehen. Aggression tritt nur dann auf, wenn dies nicht möglich ist oder das gewünschte Ergebnis nicht zustande kommt. Dann können Aggressionstendenzen entstehen, die sich auf uns selbst oder auch auf andere richten können. Bei der Angst versuchen wir, aus der Situation zu flüchten und uns vor dem als gefährlich empfundenen Objekt in Sicherheit zu bringen. Nur wenn Flucht nicht möglich ist, kann es sein, dass wir das beängstigende Objekt angreifen, um die Angst zu beseitigen.
MS: Wie unterscheiden sich Neid, Hass und Ressentiment in ihren strukturellen Eigenschaften?
IVF: Ich würde die Unterschiede zwischen diesen drei affektiven Phänomenen anhand von drei Aspekten kurz darstellen. Erstens gibt es den Aspekt der Zeitlichkeit. Ressentiment und Hass sind andauernde affektive Phänomene, bei deren Herausbildung andere feindliche affektive Phänomene wie etwa Rachegefühl, Neid usw. beteiligt sind. Ressentiment ist allerdings eine Haltung, die sich nicht auf eine spezifische Art und Weise anfühlt. Hass ist als andauernde Gesinnung zu fassen, die aber in episodischer Form auftreten kann. Neid hat die typische Struktur einer Emotion, die sowohl episodisch als auch langfristig auftritt. Zweitens lassen sich diese drei Phänomene anhand ihres phänomenalen Charakters unterscheiden. Wie bereits erwähnt hat das Ressentiment keine charakteristische Phänomenologie. Es fühlt sich nicht in einer bestimmten Form an. Anders ist es beim Hass und beim Neid. Beide kennzeichnen sich durch ihren jeweiligen typischen phänomenalen Charakter. Und schließlich würde ich diese drei Phänomene anhand ihrer Verbindung mit Werten voneinander unterscheiden. Beim Ressentiment wird das Objekt entwertet, das uns in einem ursprünglichen Moment als wertvoll erschien. Es wird gerade darum entwertet, weil das Subjekt nicht ertragen kann, dass es der andere ist, der etwas Wertvolles besitzt, welches es auch haben möchte. Im Fall des Hasses ist es so, dass das Subjekt dem Objekt die Eigenschaft des Bösen zuschreibt (unabhängig davon, ob der andere tatsächlich böse ist oder nicht). Und beim Neid betrachtet das Subjekt das Objekt und den Rivalen stets als wertvoll. Von diesen drei Phänomenen scheint mir der Neid das für das Subjekt schmerzhafteste zu sein. Denn anders als beim Ressentiment (wo das Objekt entwertet wird) und beim Hass (wo das Objekt als Böse betrachtet wird) bleibt beim Neid die Erkenntnis über den Wert des Objektes und des Rivalen unverändert.
MS: Wie beeinflussen verschiedene Arten von Selbstgefühlen das Aufkommen und die Intensität von feindlichen Gefühlen? Welche Wechselwirkung lässt sich in diesem Zusammenhang beobachten?
IVF: Die Meinung, dass ein niedriges Selbstwertgefühl das Vorkommen und die Intensität feindlicher Gefühle begünstigt, ist weit verbreitet. Die Idee, dass Menschen, die ein schlechtes Bild von sich selbst haben, zu Neid, Missgunst usw. neigen, ist auf den ersten Blick intuitiv. Allerdings ist hier Vorsicht geboten. Erstens soll hier zwischen dispositionellem und episodischem Selbstwertgefühl unterschieden werden. Der erste Ausdruck bezeichnet eine langfristige Haltung des Subjektes, während der zweite auf eine punktuelle Erfahrung hindeutet. Vor diesem Hintergrund es ist möglich, dass auch Menschen mit einem hohen dispositionalen Selbstwertgefühl feindliche Gefühle empfinden können. Demnach sind auch Menschen mit einem andauernd übertriebenen positiven Bild von sich selbst in der Lage, neidisch zu sein, Missgunst zu verspüren usw., wenn sie eine episodische Erniedrigung ihres Selbstwertgefühls empfinden. Zweitens setzen einige feindliche Gefühle gerade ein größeres Selbstwertgefühl voraus. Denken wir etwa an die Verachtung: Verachtung setzt voraus, dass der Verachtende sich dem anderen gegenüber überlegen fühlt. Drittens ist es so, dass manche feindliche Gefühle gerade entstehen, um unseren Selbstwert zu schützen. Dies ist bei der Empörung der Fall. Empörung entsteht, wenn wir eine Ungerechtigkeit erfahren haben und unseren eigenen Selbstwert vor einer möglichen Erniedrigung schützen wollen. Die Zusammenhänge zwischen Selbstwertgefühlen und feindlichen Gefühlen sind – wie wir anhand dieser Fälle sehen – sehr komplex und können nur von Fall zu Fall erhellt werden.
MS: Inwiefern können feindliche Gefühle die Persönlichkeitsstruktur prägen und pathologische Züge annehmen?
IVF: Feindliche Gefühle können Wahrnehmungen, Vorstellungen, Erinnerungen, Überzeugungen, Erwartungen, Gefühle usw. eines Subjektes beeinflussen, etwa indem sie seine Aufmerksamkeit auf bestimmte Aspekte des Lebens lenken und einige Bereiche der Realität gegenüber anderen hervorheben. Wenn dies über längere Zeit geschieht, können feindliche Gefühle den Charakter einer Person verändern. Das Verfahren und die darin implizierten Mechanismen und Dynamiken hat Max Scheler sehr bildhaft für den konkreten Fall des Ressentiments als Vergiftung beschrieben. Dies lässt sich wie folgt zusammenfassen: Wenn der Fuchs nicht erreichen kann, was ein anderer Fuchs besitzt und was er auch als wertvoll betrachtet, ändert er zunächst sein Urteil über das begehrte Objekt. Der Fuchs sagt hier: Die Trauben sind grün. In der nächsten Stufe dieses Prozesses wird dann seine Wahrnehmung verändert. Der Fuchs nimmt die Trauben als sauer wahr. Anschließend ändert sich die Rangordnung der Werte. Der Fuchs behauptet, dass Süßes schlecht ist. Anfangs konnte der Fuchs noch den Wert der Trauben erfassen, auch wenn er über sie schlecht geredet hat. Am Ende täuscht er sich selbst so stark, dass der Wert des Süßen als Unwert erfasst wird. Die Vergiftung besteht hier darin, dass feindliche Gefühle den ganzen Denk- und Gefühlsapparat des Subjekts so modifizieren, dass es zu einem verzerrten Bild der Realität geführt wird und sich selbst darüber täuscht. Es merkt nicht, dass es in einer Täuschung lebt. Diese Verzerrungen der eigenen Psyche und das daraus resultierende verzerrte Bild der Realität sind als pathologisch anzusehen. Ähnliche Prozesse der Verzerrung lassen sich bei anderen feindlichen Gefühlen beschreiben.
MS: In einer Ihrer Analysen nutzen Sie das Beispiel der Charaktere Joaquín und Abel aus Miguel de Unamunos 'Abel Sánchez', um den existentialen Neid zu verdeutlichen. Was macht dieses literarische Beispiel besonders geeignet, um die Dynamik und die Intensität dieses Gefühls zu illustrieren? Welchen umfassenderen Zugang eröffnet die Literatur zum Verständnis dieser komplexen Emotionen?
IVF: Miguel de Unamunos Abel Sánchez fand ich für die Untersuchung von Neid besonders gut geeignet, weil der Roman eine extreme Form dieser Emotion beschreibt und uns vergegenwärtigt. Dies hat in der philosophischen Literatur kaum Beachtung gefunden. Nur bei Max Scheler, Gonzalo Fernandez de la Mora und Gabrielle Taylor lassen sich einige Bemerkungen über existentialen Neid finden. Literatur (sowie Fiktionen im Allgemeinen) kann eine wichtige erkenntnistheoretische bzw. epistemische Funktion erfüllen, wenn es darum geht, unser Gefühlsleben zu erforschen. Wie Sie erwähnen, können literarische Texte erstens bestimmte Gefühlskonstellationen illustrieren und exemplifizieren. Zweitens finden wir in der Literatur bestimmte Erfahrungen vergegenwärtigt, zu denen wir in unserem Leben aufgrund historischer oder sozialer Hindernisse sonst nie Zugang erhalten hätten. Die Literatur fungiert hier als eine Art Ersatz für das Erleben bestimmter Erfahrungen, die sonst außerhalb unserer Reichweite stehen. Darüber hinaus werden die Erfahrungen von Gefühlen und Gefühlskomplexen in der Literatur so dargestellt, dass bestimmte Elemente klar in den Vordergrund treten. Sie werden uns im realen Leben nicht so transparent gemacht, weil wir von Mitleid erfüllt sind oder uns in einem Gefühlschaos befinden. Wir sollten dabei allerdings aufpassen, die Literatur nicht auf ihre epistemische Funktion zu reduzieren. Denn damit würden wir der Literatur ihre Eigenständigkeit als Praxis absprechen. Wenn wir die Literatur als Mittel zur Illustration bestimmter Gefühle verwenden oder sie dazu nutzen, um uns Klarheit über bestimmte Gefühlserfahrungen zu verschaffen, sollten wir uns immer vor Augen führen, dass wir nur einen epistemischen Gebrauch von der Literatur machen, diese aber auf ihre epistemische Funktion nicht beschränken wollen.
MS: Feindliche Gefühle können sowohl individuell als auch kollektiv auftreten. Wie unterscheidet sich die Manifestation dieser Gefühle in sozialen Gruppen von der individuellen Ebene? Welche Rolle spielen hierbei gesellschaftliche Normen und Tabus?
IVF: Feindliche Gefühle, die individuell auftreten, und solche, die kollektiv vorkommen, unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie sich auf das Gefühlsobjekt richten. Es gibt daher einen Unterschied der Intentionalitätsform. In diesem Zusammenhang ist der Einfluss der Umgebung auf die individuellen Gefühle hervorzuheben. Ein Aspekt, den ich hier erwähnen möchte, ist die Rolle, die tradierte Ansichten bei der Bestimmung und Charakterisierung des Gefühlsobjekts spielen. Das intentionale Objekt eines Gefühls wird uns anhand kognitiver Zustände wie etwa Wahrnehmungen, Erinnerungen, Vorstellungen, Überzeugungen, Annahmen oder Erwartungen gegeben. Diese kognitiven Grundlagen des Gefühls sind sehr oft von Ideologien und Vorurteilen, von Normen und Regeln der Gesellschaften, Gemeinschaften, Kulturkreise und anderer sozialer Einheiten, in denen wir leben, geprägt. Zum Beispiel betrachtet ein Xenophob Menschen, die aus anderen Ländern kommen, als minderwertig. Die Wahrnehmung eines Ausländers ist bei dem Xenophoben mit der Überzeugung verbunden, dass dieser Mensch weniger wertvoll als ein Einheimischer ist. Auf diese Überzeugung kann ein Gefühl der Verachtung oder des Hasses gründen. Normative und ideologische Elemente sind sehr stark in uns verankert, und es ist daher sehr schwierig, die darauf basierenden Gefühle zu ändern. Denn eine Änderung setzt eine Revision der eigenen Denkweisen voraus. Das Erlernen eines Gefühls ist auch ein weiterer Aspekt, der hervorgehoben werden sollte. Anhand von Schlüsselszenarien lernen wir in unserer Kindheit und innerhalb einer bestimmten Kultur, emotional auf bestimmte Objekte zu reagieren. So kann etwa auch ein Xenophob erlernt haben, mit Verachtung auf Ausländer zu reagieren. In diesem Fall wurde die Verachtung als Gefühlsreaktion von dem Xenophob einfach von seinem Kulturkreis übernommen. Eine Änderung dieser Gefühlsreaktionen, die erlernt sind, verlangt von uns eine Revision der Schlüsselszenarien, was natürlich sehr komplex und langwierig sein kann.
MS: Sind feindliche Gefühle grundsätzlich moralisch schlecht oder können sie unter bestimmten Umständen sogar eine konstruktive Rolle spielen?
IVF: Als Gefühlsreaktionen sind sie per se weder gut noch schlecht. Sie gehören zu unserem Repertoire menschlicher Gefühle. Daher wäre es sinnlos, wenn wir uns verbieten würden, sie zu spüren. Außerdem erfüllen viele dieser Gefühle eine Funktion, indem sie uns sagen, was uns wichtig ist und wann eine Grenze überschritten wurde. In dieser Hinsicht zeigt uns etwa der Neid, dass wir etwas als wertvoll betrachten und es auch gerne besäßen (und somit hat er auch eine motivierende Funktion). Empörung kann auch darauf hindeuten, dass eine persönliche Grenze verletzt wurde und wir eine Ungerechtigkeit erfahren haben. Aber wir tragen eine moralische Verantwortung dafür, was wir mit diesen Gefühlen machen, wenn wir sie erleben. Es kann tatsächlich moralisch problematisch sein, den Aggressionstendenzen, welche diesen Gefühlen innewohnen, freien Lauf zu lassen oder es ihnen zu ermöglichen, zum Kern unserer Person durchzudringen und uns zu verbitterten Menschen zu machen.
MS: Welche spezifischen Einsichten haben Sie über die Funktionen feindlicher Gefühle gewonnen? Sehen Sie in diesen Erkenntnissen praktische Ansätze oder Lösungsstrategien, die hilfreich sein könnten für einen konstruktiven Umgang mit ihnen?
IVF: Es gibt in der heutigen Philosophie eine steigende Tendenz, feindlichen Gefühlen eine positive und sogar wünschenswerte Funktion zuzuschreiben. Dies betrifft etwa den Neid, die Verachtung und manchmal auch den Hass. Mir erscheint diese Entwicklung sehr problematisch. Denn auch wenn diese Gefühle zu unserem menschlichen Repertoire gehören und wir sie als solche nicht ausschalten können, ist eine Kultivierung feindlicher Gefühle nicht wünschenswert. Denn es ist eine Sache zu behaupten, dass diese Gefühle eine Funktion erfüllen können, etwa indem sie uns darauf hinweisen, dass uns etwas als gut erscheint, was wir auch haben wollen, oder dass der andere böse ist; aber es ist eine ganz andere Sache zu sagen, dass diese Gefühle moralisch angemessene Antworten auf den anderen sind. Eine Kultivierung feindlicher Gefühle führt zu einer Stigmatisierung des anderen, zu einer Vereinfachung und Reduktion des anderen auf seine negativen Merkmale und zu einer Konzentration auf seine Schwächen. Darüber hinaus verursacht eine Kultivierung dieser Gefühle eine „Vergiftung“ (um Schelers Terminus zu verwenden). Diese Gefühle modifizieren unsere Psyche, etwa indem sie beeinflussen, welche Art Gedanken wir haben, welche Gefühle wir spüren, an was wir uns erinnern, welche Vorstellungen wir haben, auf was wir unsere Aufmerksamkeit richten usw.
MS: Wie sehen Sie die Zukunft Ihrer Forschung zu feindlichen Gefühlen? Welche Themen oder Fragen planen Sie als Nächstes zu erforschen, und welche Entwicklungen halten Sie in diesem Bereich für besonders spannend?
IVF: Es gibt momentan zwei Themen, an denen ich weiterarbeiten möchte. Erstens möchte ich weiter die Frage danach untersuchen, inwiefern Empathie bei der Regulation von feindlichen Gefühlen wie etwa Neid, Eifersucht, Verachtung oder Hass eine Funktion spielen kann. Damit versuche ich, auf dem Gebiet der feindlichen Gefühle zwei Debatten zusammenzubringen, die bislang in relativ unabhängig voneinander entwickelt worden sind: die Debatte über Emotionsregulation und die Debatte über Empathie. Emotionsregulation bezeichnet Prozesse, die unsere Emotionen, deren Erleben und Ausdruck beeinflussen. Menschen versuchen in der Regel, feindliche Gefühle herunter zu regulieren, weil diese als moralisch verwerflich betrachtet werden. Empathie, d.h. die Fähigkeit, die Gefühle des anderen zu erfassen und zu simulieren, spielt dabei eine wichtige Funktion. Wenn wir die Gefühle des anderen wahrnehmen und diese nachempfinden, können wir die Lage des anderen besser verstehen und unsere feindlichen Gefühle ihm gegenüber dann modifizieren. Die phänomenologischen Theorien der Empathie und die phänomenologischen Analysen verschiedener feindlicher Gefühle können die Debatte über Emotionsregulation meiner Meinung nach sehr bereichern. Über dieses Thema und konkret über die Rolle der Empathie bei der Regulation von Hass habe ich erst kürzlich einen Aufsatz verfasst, der in einem von Thomas Fuchs und Philipp Schmidt herausgegebenen Sammelband erscheinen wird. Ein zweites Thema, mit dem ich mich momentan auch beschäftige, untersucht den Einfluss feindlicher Gefühle bei der Herausbildung anderer feindlicher Gefühle. Es geht hier um die ontologische Frage, inwiefern feindliche Gefühle Quellen und Teilkomponenten anderer feindlicher Gefühle sein können. Dies betrifft besonders Gefühle, die starke biographische Komponenten haben, wie es etwa beim Hass der Fall ist, und welche fast nie die erste Reaktion gegenüber dem anderen sind. Hass setzt tatsächlich eine Vorgeschichte von Konflikten zwischen Subjekt und Objekt voraus, bei der feindliche affektive Phänomene wie etwa Neid, Rachegefühl oder Empörung beteiligt waren. Mithilfe einer phänomenologischen Motivationsanalyse lässt sich diese Vorgeschichte und die verstrickten Zusammenhänge zwischen den beteiligten Gefühlen meiner Meinung nach gut untersuchen. Über dieses Thema habe ich ebenfalls kürzlich für einen von Thomas Jusuf Spiegel herausgegebenen Sammelband und ein von Peter Antich, Christos Hadjioannou und Nikos Soueltzis herausgegebenes Sonderheft Aufsätze verfasst.
MS: Möchten Sie abschließend noch etwas hinzufügen? Gibt es einen Aspekt oder eine Perspektive, die Sie besonders betonen möchten?
IVF: Ich würde gerne noch einmal betonen, dass die Phänomenologie bereits seit ihren Ursprüngen ihr Potential gezeigt hat, verschiedene Aspekte der menschlichen Affektivität zu erforschen. Hierzu zählen auch die feindlichen Gefühle. Für mich ist dieses Potential noch nicht ausgeschöpft. Ganz im Gegenteil: Die Phänomenologie kann uns noch viel über die Natur unseres Gefühlslebens beibringen, insbesondere im Dialog mit anderen philosophischen Traditionen und Disziplinen.
MS: Vielen Dank für das aufschlussreiche Interview und die wertvollen Einblicke. Ihre Arbeit verdeutlicht dieses Potenzial der Phänomenologie in der Affektforschung. Ich freue mich auf Ihre kommenden Publikationen und bin gespannt, welche neuen Entwicklungen uns in diesem Bereich erwarten.