Beiträge, Interview

Interview mit Inga Römer zum Antritt ihrer Professur an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg

Nicolas Blaue

9th April 2024

Nicolas Blaue: Zum 01. September haben Sie die Professur mit der Denomination Hermeneutik und Phänomenologie am Philosophischen Seminar der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg angetreten. Möchten Sie vor diesem Hintergrund Ihren Werdegang mit den jeweiligen Stationen schildern?


Inga Römer: Mein Werdegang hat in der Tat etwas mit dem Denkweg zu tun, auf dem ich mich zu orientieren versuche. In meiner Gymnasialzeit hatte ich unter recht guter Anleitung Werke von Descartes und Hegel gelesen. Die Suche nach einem Fundament der Gewissheit und der Versuch der rationalen Durchdringung aller Bereiche unserer oft so unübersichtlich scheinenden Welt faszinierten mich. An der Universität Hamburg hatte ich dann zu Beginn meines Studiums der Philosophie ein gewisses Enttäuschungserlebnis (was mir die Hamburger hoffentlich verzeihen). Es gab einige hervorragende Philosophiehistoriker, die Gesamtatmosphäre war jedoch von einer auf sehr spezifische Einzelfragen konzentrierten analytischen Philosophie geprägt, von der suggeriert wurde, sie sei die systematische Philosophie unserer Zeit. Das, was mich an der Philosophie angezogen hatte, schien überholt zu sein. Eine gewisse, aus dieser Erfahrung resultierende Desorientierung löste sich erst auf, als ich im dritten Studienjahr über das Erasmus-Programm an die Université Michel de Montaigne – Bordeaux III ging. Es war ein ziemlicher Zufall. Ich wollte eigentlich ins englischsprachige Ausland, es waren dort aber keine Plätze mehr frei. Bordeaux wurde es dann, weil das Hamburger Seminar ganz einfach mit diesem französischen Institut eine Kooperation etabliert hatte. Wie es in Frankreich üblich ist, erhielt ich ein Jahr lang eine grundlegende und umfassende Ausbildung in nahezu allen Epochen und systematischen Feldern der Philosophie. Zum ersten Mal las ich ernsthaft die klassischen Werke der antiken und der neuzeitlichen Philosophie und fand mich in die großen Debatten und Themen der Philosophiegeschichte ein. Es galt, Prüfungen vorzubereiten, in denen (ich habe es nicht vergessen) Themen gestellt wurden wie „Être et substance“; da hatte man dann vier oder fünf Stunden Zeit, um sie möglichst kenntnisreich und rhetorisch geschickt zu beantworten, eine Art Denkgymnastik, die mir damals großen Spaß machte. Das Wichtigste war jedoch, dass meine seit der Gymnasialzeit etwas brachliegenden philosophischen Fragen wieder aufgegriffen wurden. Und hier kommt wieder der Zufall ins Spiel: In dem einen Jahr hatte ich gleich drei Seminare zur Phänomenologie Edmund Husserls, sie gehörten ganz einfach zum Stundenplan der Licence (das entspricht dem dritten Bachelor-Studienjahr), für die ich mich eingeschrieben hatte. Was mich bei Descartes angezogen hatte, fand ich nun bei Husserl wieder, aber noch genauer, zeitgemäßer und lebensnaher. Es war ein großes Glück, dass in eben jenem Jahr zwei hervorragende Dozenten in unserem Jahrgang lehrten: Jean-Michel Roy, der heute Professor an der ENS de Lyon ist, und Dominique Pradelle, heute Professor an der Sorbonne Université und Direktor des Husserl-Archivs in Paris. Sie haben uns damals ganz im Sinne des vom Meister geforderten Kleingeldgebens minutiös und präzise in die Prolegomena, die Ideen I, die Ideen II und die Cartesianischen Meditationen eingeführt. Ich sehe es heute keineswegs als Zufall an, dass ich gleichsam nach Frankreich gehen musste, um der deutschsprachigen Phänomenologie zu begegnen. Zurück in Hamburg habe ich dann weitestgehend autodidaktisch weiterstudiert. Aber doch nicht ganz. In gleichsam US-amerikanischen Verhältnissen studierten damals alle, die sich für Phänomenologie und französische Philosophie interessierten, das Fach „Neuere deutsche Literatur“, weil dort ein Professor lehrte, der literaturtheoretische, hermeneutische und philosophische Fragen miteinander verknüpfte. Prof. Ulrich Wergin las über Heidegger, Adorno, Levinas, Ricœur, Paul Celan, Nelly Sachs, Gertrude Kolmar… - und ein kleiner, aber feiner Kreis lauschte ihm jeden Freitagnachmittag. Mit einigen seiner Schüler, ebenfalls Exilanten der Philosophie, haben wir damals eine ganz Reihe von Lesekreisen veranstaltet. Begleitet wurde dieses Grenzgängertum von Prof. Dorothea Frede, die mit Großzügigkeit und Wohlwollen meinen etwas merkwürdigen Weg unterstützte und meine Magisterarbeit im Fach Philosophie betreute. International anerkannte Spezialistin der antiken Philosophie hatte sie, ihrerseits eher aufgrund von biographischen Zufällen, einen Nebenschwerpunkt in Phänomenologie und Existenzphilosophie entwickelt. Erst vor kurzem sagte sie mir mit dem ihr eigenen Humor, es sei ihr Verdienst, mich damals nach dem Magister weggeschickt zu haben. Das war natürlich nicht ihr einziges Verdienst, aber mit weisem Blick sah sie damals besser als ich, dass es für mich in Hamburg keine Zukunft gab. Meine Magisterarbeit hatte ich über Zeit bei Husserl und Heidegger geschrieben. Ich war dabei zu Ergebnissen gekommen, die denen eines gewissen französischen Philosophen namens Paul Ricœur irgendwie ähnelten. Nun gut, dann also weiter mit Ricœur, um die Husserl zufolge tiefste aller phänomenologischen Fragen, nämlich die nach der Zeit, weiter zu erforschen. Aber wo? Mit der Unterstützung meines Hamburger Promotionsstipendium bin ich damals auf zahlreiche Tagungen gefahren, um mich zu orientieren. Auf einer kleinen Veranstaltung in Nijmegen begegnete ich schließlich László Tengelyi. Ich hatte schon einiges von ihm gelesen und wusste, dass sich unter den Professoren in Deutschland vermutlich niemand so gut mit Ricœur auskannte wie er. Er hatte die Großzügigkeit, mich als Doktorandin aufzunehmen und so ging ich nach Wuppertal. Es folgten acht Jahre intensivsten Lernens, in denen ich meine Doktorarbeit über Zeit bei Husserl, Heidegger und Ricœur abschloss und danach als Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Theoretische Philosophie und Phänomenologie tätig war. László Tengelyi starb unerwartet im Jahr 2014, eine große Erschütterung. 2015 habe ich in Wuppertal mit einer Arbeit über Kants Ethik in phänomenologischer Sicht habilitiert. Diese Arbeit hätte ich ohne die grundlegende, jahrelange und überaus tiefgreifende Einführung in die Philosophie Kants durch Manfred Baum nicht schreiben können. Begleitet wurden diese und die folgenden Jahre auch durch Klaus Düsing, dessen breites Interesse an allen Grundfragen der Philosophie von Kant bis zur Phänomenologie und darüber hinaus zu zahlreichen prägenden Gesprächen führte. 2016 wurde ich als Professorin für deutsche Philosophie des 18. bis 20. Jahrhunderts an die Université Grenoble Alpes berufen. Die Jahre in Frankreich waren erneut eine Phase großer Entdeckungen und Verwandlungen, vielleicht habe ich erst jetzt verstanden, was „Das Selbst als ein Anderer“ wirklich heißt. Sieben Jahre später ging es zurück nach Deutschland – nach Freiburg.


NB: Mit dem Freiburger Lehrstuhl stehen Sie in der traditionsreichen Nachfolge von Husserl und Heidegger, wenn man das so sagen darf. Wie blicken Sie zum Antritt Ihrer Professur auf diese in Freiburg verwurzelte und bereits klassisch gewordene Tradition? Wie verorten Sie evtl. auch Ihre eigene Position im Licht dieser Tradition?


IR: Wir sind Zwerge auf den Schultern von Riesen. Wenn wir Glück haben, ermöglicht es uns diese Position, trotz unserer bescheidenen Größe etwas weiter zu schauen, weil wir dank ihnen in einer gewissen Höhe stehen können. Wir können aber auch sehr leicht von ihren Schultern herabfallen und uns im Laub zu ihren Füßen verlieren. Schlimmstenfalls bilden wir uns dann dabei ein, dass die Staubkörner auf den Blättern der Himmel seien. Was der Fall gewesen sein wird, wird von unseren Nachfolgern zu beurteilen sein.

Sowohl Husserl als auch Heidegger stellen die Grundfragen der Philosophie. Diese sind letztlich die nach der Möglichkeit einer Ontologie und Metaphysik. Sie stellen diese ältesten Fragen jedoch auf eine Weise, die sie nicht in abstrakte Fernen rückt, sondern sie in unserer konkreten Erfahrung aufspürt und verankert. Husserl ist dabei der Meister des Kleingeldgebens, indem er noch die letzten Nuancen in einer Erfahrung auszumachen und in Worte zu fassen vermag. Es waren immer diese feinen Unterschiede, die er in ehrlicher philosophischer Arbeit zu sagen versucht hat, auch wenn sie allzu oft mit seinem Programm einer transzendentalen Phänomenologie als Wesenswissenschaft und einer Philosophie als strenger Wissenschaft zu konfligieren schienen. Husserl lässt nicht locker und tritt immer wieder ein in den Ringkampf mit der Erfahrung, für die er jeden Tag aufs Neue die angemessenen Ausdrücke sucht. Heidegger ist der Denker, der mit der Endlichkeit, Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit radikal ernst macht. Vielleicht macht er mit ihnen so ernst, dass er sich darin verstrickt, aber eben darin fordert er uns noch heute heraus. Außerdem ist er ein Meister der philosophierenden Philosophiegeschichtsschreibung mit einem unglaublich hohen Reflexionsniveau in der Auslegung von klassischen Texten.

Die Grundfragen der Philosophie auch in unserer Epoche wieder neu zu stellen, dies auf der Grundlage einer feinsinnigen Erfahrungsanalyse zu tun sowie dabei die Herausforderungen anzunehmen, die mit unserer unhintergehbaren Zeitlichkeit einhergehen, das sind aus meiner Sicht mindestens drei miteinander verflochtene philosophische Herausforderungen, denen wir uns in Auseinandersetzung mit der inzwischen klassisch gewordenen Bewegung der Phänomenologie weiterhin stellen sollten. Mir scheint zugleich, dass wir weder bei Husserl noch bei Heidegger befriedigende Lösungen zu Fragen der Moralphilosophie im weitesten Sinne finden, und wir finden bei ihnen vielleicht auch keine überzeugenden Antworten auf die Fragen des Verhältnisses zwischen den Fragen der Ontologie und Metaphysik einerseits und denjenigen der weit verstandenen Moralphilosophie andererseits. Hier scheint mir eine Perspektive zu liegen, die philosophisch weiter zu ergründen wäre, wobei uns spätere Denker der phänomenologischen Tradition unterstützen können, vor allem wohl Emmanuel Levinas.


NB: Würden Sie sagen, dass es heute noch lohnend ist, sich mit Husserl und Heidegger, den Gründervätern der Phänomenologie, zu befassen? Falls ja, weshalb? Oder sind es vielmehr andere Persönlichkeiten der phänomenologischen Tradition, die von aktueller Bedeutung sind?


IR: Zur Frage, weshalb die Beschäftigung mit Husserl und Heidegger auch heute noch lohnt, habe ich wohl schon in der Antwort auf die vorherige Frage etwas gesagt. Selbstverständlich gibt es jedoch darüber hinaus viele weitere Denker aus der phänomenologischen Bewegung, die uns anregen können. Da sie hier nicht alle genannt werden können, beschränke ich mich auf die Erwähnung derjenigen Bewegung, die für mich persönlich die größte Bedeutung hat: die französischsprachige Phänomenologie. Die französischsprachige Phänomenologie hat im Gefolge von Husserl und Heidegger die Grundfragen der Ontologie und Metaphysik sowie ihrer Grenzen erneut und anders gestellt. In seiner phänomenologiegeschichlichen Darstellung der ihr zugehörigen Denker hat László Tengelyi zwei Etappen voneinander unterschieden. Die erste Generation französischer Phänomenologen habe vor allem konkrete Grenzprobleme der phänomenologischen Forschung herausgearbeitet und zum Leitfaden gemacht. Dies gilt etwa für den Leib bei Merleau-Ponty oder für den Anderen bei Levinas. Für mich persönlich sind Ricœur und Levinas die wichtigsten Denker dieser Generation. Die Folgegeneration habe diese Grenzprobleme dann, immer noch Tengelyi zufolge, zum Anlass für eine Neuformulierung des Phänomenbegriffs als solchen genommen, so etwa bei Jean-Luc Marion oder Marc Richir. Inzwischen gibt es jedoch bereits die nächste Generation, die womöglich heterogener ist. Ich habe einmal versucht (in einer Sammelrezension von 2013), einige ihrer originellsten Denker durch das Prisma der Debatte zu Realismus und Idealismus zu verstehen. Allerdings halte ich weder diese Debatte für philosophisch besonders tiefgreifend, noch taugt sie meines Erachtens aktuell noch zur Kennzeichnung dieser Generation. Nennen wir nur ein paar von ihnen mit einigen Stichworten. Die spekulativeren Denker sind sicherlich Renaud Barbaras, Grégori Jean und Alexander Schnell. Auf verschiedene Weisen auf der Suche nach einem Realismus, innerhalb oder jenseits der Phänomenologie, sind Jocelyn Benoist, Etienne Bimbenet und Claude Romano. Bimbenet verfolgt zugleich eine phänomenologische Anthropologie und Romano erforscht in breiter systematischer und historischer Perspektive die Frage nach dem Selbst. Dominique Pradelle befasst sich mit Fragen einer Phänomenologie der Mathematik, welche zugleich die klassische Phänomenologie als solche an ihre Grenzen führen. Natalie Depraz arbeitet an einer Mikrophänomenologie, die sich mit dem Feld des Therapeutischen überschneidet. Claudia Serban vertieft ihre Arbeit zur Phänomenologie des Möglichen mit Forschungen zur generativen Phänomenologie und der ihr eigenen Zeitlichkeit. Viele fehlen hier noch, Bruce Bégout, Jean-François Lavigne, Emmanuel Housset, Emmanuel Cattin, Vincent Gérard, Julien Farges… Ein Interview reicht nicht, um sie auch nur kurz vorzustellen. Dazu sind die kommenden Jahre da, in denen hoffentlich viele von ihnen meine Einladungen nach Freiburg annehmen werden.


NB: Ihre letzte Stelle hatten Sie in Frankreich, an der Université Grenoble Alpes, als Professorin für deutschsprachige Philosophie inne. Sie kennen also den akademischen Betrieb sowohl in Frankreich als auch in Deutschland. Wie ist nun, da Sie nach Deutschland zurückgekehrt sind, Ihr Eindruck von der Situation der akademischen Philosophie in Frankreich und von der in Deutschland? Und wo würden Sie die Phänomenologie darin verorten?


IR: Frankreich ist ein zentralistisches Land, Deutschland ist föderalistisch und zuweilen provinziell, wobei ich das hier in einem wertneutralen Sinne meine. In Frankreich gibt es die ENS, die großen Pariser Fakultäten, dann die Universitäten der größeren Städte außerhalb von Paris und schließlich die restlichen Universitäten. Das ist immer noch eine ziemlich klare Hierarchie, die Studierende und Karrieren von Lehrenden betrifft. In Deutschland zentriert sich nicht alles etwa auf Berlin, sondern je nach Fachgebiet und fachlicher Spezialisierung findet man hervorragende Institute oder Lehrstühle überall im Land verstreut. Es gibt lokale Traditionen, die mit Namen und Denkbewegungen verbunden sind, aber es gibt nicht den einen Ort, auf den alles zustrebt. In Frankreich stellt sich jemand oft damit vor, dass er angibt, auf die ENS-Ulm gegangen zu sein und die agrégation erworben zu haben; in Deutschland erwähnt man eher, bei wem man studiert und promoviert hat, zu welcher lokalen Schule man gehört. In Hinblick auf den Ort der Phänomenologie lässt sich sagen, dass sie in Frankreich auch fast achtzig Jahre nach dem Krieg immer noch stärker verankert ist als in Deutschland, und zwar im Herzen von Paris, an den beiden Sorbonne und der ENS-Ulm. Zudem hat die Phänomenologie, vor allem in Gestalt von Heideggers Ontotheologiethese, der französischen Metaphysikgeschichtsschreibung als wichtiger Orientierungspunkt gedient. In Deutschland sind die Themen und Denkrichtigungen vielleicht etwas vielfältiger, auch verstreuter, einfach aufgrund der stärkeren Heterogeneität der Ausbildungswege, außerdem ist der Einfluss angelsächsischer Debatten stärker als in Frankreich, weil die analytische Philosophie in Deutschland auch heute noch viel präsenter ist als jenseits des Rheins. Hierzulande sind wir nicht gemeinsam in die ENS, vielleicht schon in die „classes préparatoires“ gegangen, sondern wir lernen uns irgendwann aus ganz unterschiedlichen Werdegängen heraus kennen, und dann müssen wir eine Anstrengung unternehmen, um einen gemeinsamen Gesprächszusammenhang herzustellen, dies umso mehr als die Phänomenologie nicht die in Deutschland dominierende philosophische Strömung ist. Dies gelingt, wie ich finde, auf hervorragende Weise (wenngleich natürlich keineswegs ausschließlich) durch die alle zwei Jahre stattfinden Kongresse der „Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung“; völlig unterschiedliche Köpfe finden hier regelmäßig zusammen, hören einander zu, diskutieren und pflegen intellektuelle und persönliche Freundschaften. Übrigens bekommt die Phänomenologie hierzulande gerade institutionellen Aufwind, einige Lehrstühle für Philosophie sind in jüngerer Zeit durch Phänomenolog*innen besetzt worden. Es ist etwas Wundervolles, dass wir uns im Herzen Europas geistig und physisch, kulturell und institutionell, zwischen diesen beiden entfernten Brüdern (oder Schwestern), Frankreich und Deutschland, bewegen können, um uns in diesem Hin-und-Her einer Zick-zack-Bewegung ganz eigener Art inspirieren zu lassen. Setzen wir unsere Kräfte daran, dies zu bewahren.


NB: Welche Visionen haben Sie für Phänomenologie und deren Zukunft in Freiburg? Welchen Schwerpunkt möchten Sie hier weiterentwickeln? (Und welchen eventuell mit gutem Gewissen ruhen lassen?)


IR: Anknüpfen kann ich an die hermeneutische Orientierung der Phänomenologie, die sowohl Günter Figal als auch Hans-Helmuth Gander wichtig war. Weiterentwickeln möchte ich den Austausch mit der französischsprachigen Phänomenologie. Dabei kann ich an das in Freiburg bereits bestehende, dem Husserl-Archiv angegliederte Bernhard Waldenfels-Archiv anknüpfen. Wir haben Bernhard Waldenfels nicht nur ein eigenständiges Werk zu verdanken, sondern auch den Umstand, dass die französische Phänomenologie überhaut ihren Weg nach Deutschland gefunden hat. Es gibt aber auch in der neuen Generation französischer Phänomenolog*innen zahlreiche hervorragende Denker*innen, die in Deutschland noch kaum bekannt sind, ich habe das vorhin kurz angedeutet. Von Freiburg aus möchte ich dazu beitragen, dass sich das ändert.

Weiterhin halte ich die aktuelle Konstellation des Freiburger Philosophischen Seminars für ausgezeichnet, um den Austausch zwischen der phänomenologischen Bewegung und der Philosophiegeschichte zu vertiefen. Vor allem die antike Philosophie und die klassische deutsche Philosophie, aber auch andere Etappen der Geschichte der Philosophie, waren einschlägig für Denkerinnen und Denker der Phänomenologie. Mit meinen Freiburger Kolleginnen und Kollegen teile ich das Philosophieren mit, in und gegen die Philosophiegeschichte. Wir haben gerade unser erstes Institutskolloquium zu diesem Themenfeld gehabt. Auch das hat hier Zukunft.

Visionen? Ich bin in unter einem Hamburger Bundeskanzler geboren, dazu sage ich lieber nichts…


NB: Wo sehen Sie für die Phänomenologie – sei sie deutschsprachig, französischsprachig oder international – mögliche Entwicklungspotenziale?


IR: Die Phänomenologie kann meines Erachtens auch heute, vielleicht sogar gerade heute, zu überaus vielen Feldern etwas beitragen. Das ist doch etwas Erstaunliches bei einer Bewegung, die mehr als 120 Jahre alt ist. Die Phänomenologie entwickelt sich heute vielleicht in Hinblick auf Fragen der Ontologie und Metaphysik, der philosophischen Anthropologie (ganz besonders im Dialog mit der Psychopathologie), der Sozialphilosophie und der politischen Philosophie sowie der Ästhetik am stärksten weiter. Sie wird aber auch immer wieder eingesetzt, um Debatten zu bereichern, deren Probleme aus anderen Traditionen heraus formuliert werden, so etwa der Philosophie des Geistes oder der Kritischen Theorie. Selbst aus dem Generalangriff einiger „neuer Realisten“ auf die „korrelationistische“ Phänomenologie scheint letztere gestärkt hervorgegangen zu sein, indem sie nach phänomenologisch ausweisbaren Realitätsbegriffen forscht und dabei schon einige Ergebnisse vorzuweisen hat.


NB: Wenn wir ideal sprechen dürfen; welchen Beitrag würden Sie sich wünschen, für die Weiterentwicklung der Phänomenologie zu leisten?


IR: Fragen Sie mich nach einem zukünftigen Werk? Nach jahrelangem Studium der Zeit bin ich zu dem Ergebnis gekommen, dass wir die Zukunft nicht kennen.


NB: Gibt es etwas, das Sie Interessierten an der Phänomenologie mitteilen möchten, die eventuell erwägen, nach Freiburg zu kommen (seien es Studierende oder Graduierte)?


IR: In Freiburg liegt der Akzent in Lehre und Forschung auf der Erforschung der Werke von Husserl und Heidegger sowie der französischsprachigen Phänomenologie. Dies geschieht in einer Perspektive, in der die Grundfragen der Philosophie, vor allem die der Ontologie und Metaphysik, erörtert werden. Dabei ist die genaue Auseinandersetzung mit ausgewählten Etappen der Philosophiegeschichte von zentraler Bedeutung, vor allem die mit der Antike und der klassischen deutschen Philosophie. Wenn sich eine Studierende oder ein Studierender für diese Perspektiven interessiert, dann ist er oder sie in Freiburg am rechten Ort. Nicht zu vergessen sind darüber hinaus die Freiburger Studierenden. Die Atmosphäre ist nach meiner bisherigen Wahrnehmung überaus freundlich, kollegial, intellektuell anregend, und es gibt eine hervorragend engagierte Fachschaft. Kurzum: Freiburg ist quasi ein Paradies.


NB: Gibt es etwas, das Sie an Freiburg besonders reizt (akademisch wie nicht-akademisch)? Und gibt es etwas, das Sie an Grenoble vermissen?


IR: Die Berge waren größer in Grenoble! Aber die Isère erlaubt nicht, was die Dreisam möglich macht: Freiburger, die im Hochsommer einen Esstisch ins Wasser stellen und mit gekühlten Füßen zu Abend zu essen.


NB: Sie sind nun Professorin für Hermeneutik und Phänomenologie. War das schon immer Ihr Ziel? Gab es für Sie eventuell auch andere philosophische Strömungen oder andere Wege, die für Sie in Frage gekommen wären?


IR: Wie ich vorhin schon andeutete, war es ein gewisser Zufall, der mich zu Husserl geführt hat. Ich denke, ich hätte ebenso gut mit Kant beginnen können, vielleicht mit Descartes. Es waren die Grundfragen von Erkenntnistheorie, Ontologie und Metaphysik, die mich interessierten, und dies im Ausgang von einem Philosophieren, das das sich Zeigende, das Phänomen, und zugleich den Reichtum und die Unübersichtlichkeit unserer Erfahrung zum Maßstab zu nehmen sucht.


NB: Haben Sie auch Forschungsinteressen, die eventuell nicht unbedingt der traditionellen Phänomenologie entsprechen? Falls ja, haben Sie den Eindruck, dass die Verflechtung mit anderen Disziplinen die Phänomenologie bereichert oder gar notwendig ist?


IR: Eine Phänomenologie, die nur versucht, auf die Sache selbst zu starren, bleibt meines Erachtens fast zwangsläufig naiv. Die Phänomenolog*innen müssen sich mit Texten befassen und das, was sie erfahren, an den Begriffen und Denkfiguren messen, die ihnen dort begegnen. Diese Texte können der Philosophiegeschichte entstammen, anderen Disziplinen und Forschungsbereichen, oder aber den Künsten. Heute ist viel von „Critical phenomenology“ die Rede. Meines Erachtens ist die Bewegung der Phänomenologie fast überall kritisch gewesen, insofern sich fast alle ihre großen Denker mit bestimmten Denkern der Philosophiegeschichte, anderen Disziplinen oder Kunstwerken befasst haben und sich derart haben in Frage stellen lassen. Damit soll keineswegs gesagt sein, dass die Anliegen der aktuellen „Critical phenomenology“ überholt sind, sondern nur dass der Grundzug der Phänomenologie fast überall in irgend einer Form schon ein „kritischer“ war und daran heute angeknüpft werden kann. Zugleich halte ich es jedoch für wichtig, die sogenannte „Interdisziplinarität“ nicht zu forcieren. Für manche Problemstellungen ist es unerlässlich, sich mit bestimmten anderen Disziplinen zu befassen, für andere ist es wichtiger, in die Philosophiegeschichte zu schauen. Die Verflechtung ist eine Bereicherung, aber sie muss auf dem Boden einer Problemstellung stehen, die ihr Sinn verleiht.

Meine eigenen Interessen sind vielfältig, aber wenn es darum geht, womit ich mich auch zumindest ein wenig auskenne, so würde ich vor allem zweierlei nennen: die Philosophie Kants und einige Romanschrifsteller. Kant ist nach Platon, Aristoteles und Descartes vielleicht der letzte ganz große Philosoph (ich sehe schon, dass man mir hier ganz in meiner Nähe vermutlich widersprechen wird…). Aus meiner Sicht war und ist die Phänomenologie dann ganz besonders gut, wenn sie sich mit Kant interpretierend und kritisch auseinandersetzt. Kant hat die Fragen der Transzendentalphilosophie und der Möglichkeit von Ontologie und Metaphysik auf einen neuen Boden gestellt, an den die Phänomenologie anknüpfen kann, ohne ihn einfach zu übernehmen. Kant hat im Übrigen gesehen, dass die Frage nach der Metaphysik etwas mit der Moralphilosophie zu tun hat, ohne selbst Moralphilosophie zu sein, das hat die Phänomenologie vielleicht noch nicht ernst genug genommen.

Nun noch ein Wort zu den Romanschriftstellern. Philosophie ist nicht Literatur und Literatur ist nicht Philosophie. Bestimmte Schriftsteller aber haben so feinsinnige Beobachtungen unserer Erfahrungen ausgedrückt, dass ihre Kunst unser phänomenologisches Philosophieren weit mehr zu bereichern vermag als unsere eigenen, oft hilflosen Versuche, mit Worten in die Tiefen unserer Erfahrung einzudringen. Für mich sind es vor allem Shakespeare, Dostojewski, Tolstoi (mit Ausnahme des ganz späten), Tschechow, Henry James, Thomas Mann, Joseph Conrad, und ganz besonders Proust und Melville. Ich würde nicht für eine Rückkehr der Philosophie in den Ozean der Poesie plädieren, aber für einen regelmäßigen Aufenthalt am Meer, in seinen Wellen und undurchdringlichen Tiefen.


NB: Möchten Sie im Allgemeinen oder zu einem bestimmten Thema noch etwas sagen bzw. hinzufügen?


IR: Die Phänomenologie lebt davon, dass jede Generation sich neu die Frage stellt, was die „Sache selbst“ denn nun eigentlich sei. Sie und ihre Komiliton*innen sind die nächsten. Ich bin schon jetzt gespannt auf Ihre Antworten.