Die Genealogie der Husserlschen Begriffe im Spiegel der Philosophiegeschichte
Dieses Seminar machte es sich zur Aufgabe, die Beziehung der Husserlschen Phänomenologie zur Geschichte der Philosophie zu untersuchen. Wenn die radikale Forderung nach einer Rückkehr „zu den Sachen selbst“ Husserl die Notwendigkeit auferlegt, seine philosophische Sprache von einer bestimmten, als zu naiv betrachteten Tradition zu lösen, der gegenüber sich die Phänomenologie als eine Form der Erneuerung anbieten will, so scheint gleichzeitig Husserls Terminologie von Begriffen durchdrungen zu sein, die aus der Geschichte der Philosophie übernommen wurden. Einerseits ordnet Husserl seine Begriffe als philosophisches Erbe ein (zB Monade, cogito, eidos), andererseits wird die geschichtliche Verankerung mancher Begriffe nicht explizit wiedergegeben (zB Identität, Erlebnis). Die Beziehung der Phänomenologie zu Begriffen aus der Geschichte der Philosophie ist also nicht nebensächlich, sondern stellt eine strukturelle Komponente der phänomenologischen Methode dar, die nach einer Erklärung verlangt.
Claudio Majolino ist maître de conférences an der Universität Lille. Seine Forschungthemen sind die Phänomenologie, Sprachphilosophie, Geschichte der Philosophie und Metaphysik. Indem er einige Punkte aus seinem neuesten Buch darstellt, (The Invention of Infinity. Essays on Husserl and the History of Philosophy, Springer 2023) untersucht Majolino das Husserl’sche Konzept von „Einstellung“, um 1) seine Originalität und seine historische Neuheit, 2) die Abwesenheit von Nachkommenschaft in der folgenden phänomenologischen Tradition, und 3) die zentrale Stellung innerhalb der Husserl’schen transzendentalen Phänomenologie aufzuzeigen. Darüber hinaus zeigt der Vortragende den Zusammenhang zwischen dem Konzept der Einstellung und demjenigen der „Einheit der Bedeutsamkeit“. Er formuliert die „drei a priori Gesetze“ der Bedeutsamkeit in den unterschiedlichen von Husserl identifizierten Einstellungen.
Amalia Trepca ist Doktorandin an der Universität Grenoble-Alpes und an der Bergischen Universität Wuppertal mit der Doktorarbeit Egologie und genetische Phänomenologie. Die Tiefen des fungierendes Ich im Denken Edmund Husserls, unter Betreuung von Inga Römer und Alexander Schnell. Ihre Präsentation, die nah an den Hauptthemen ihrer Recherche liegt, behandelt den Begriff des Ego bei Husserl. Trepca zeigt, dass das reine Ich, durch seine zeitliche Konstitution, von Anfang an von einer gewissen Dezentrierung geprägt wurde. Die genetische „Wende“ der Phänomenologie und ihre Einführung von Begriffen wie Passivität, Gefühl, Paarung und Affektion ermöglichen ein Verständnis des passiven Selbst und der Möglichkeit eines neuen Verständnisses von der Einheit des Ego.
Alban Stuckel ist Doktorand an der École normale supérieure mit der Doktorarbeit Die Metamorphosen der Lebenswelt. Eine Studie über die Phänomenologie von Hans Blumenberg unter der Betreuung von Jean-Claude Monod. Seine Präsentation erkundet die geschichtliche Entwicklung des Begriffs „Lebenswelt“ bei Husserl. Die Lebenswelt ist einer der späteren und meistzitierten Begriffe Husserls, jedoch muss die Genealogie seiner Bildung durch die philosophischen Quellen der Jahrhundertwende noch erarbeitet werden. Stuckel befasst sich mit dieser Aufgabe und zeigt, inwiefern diese problematische „Rubrik“ der Husserl’schen Auseinandersetzung Richard Avenarius, Wilhelm Dilthey und der Lebensphilosophie geschuldet ist.
Elise Marrou ist maîtresse de conférences an der Sorbonne Université. Ihre Forschungsthemen betreffen hauptsächlich das Denken Ludwig Wittgensteins, seine Rezeption in Frankreich und sein Verhältnis mit anderen Bewegungen, wie z.B. der Phänomenologie. Ihre Präsentation fokussiert die Begriffe von Sinn und Bedeutung (ein „couple de notions solidaires“ nach Claude Imbert) aus dem Buch von Gottlob Frege. Indem sie das Verhältnis zwischen Husserl und Frege neu interpretiert, bietet Marrou eine Kartographie der Husserl’schen Rezeption dieser Konzepte, die für die österreichischen Logiker der Jahrhundertwende entscheidend waren. Diese Rekonstruktionsarbeit beruht auf den frühen Schriften Husserls (insbesondere auf Philosophie der Arithmetik), auf dem Briefwechsel mit Frege (nach der Interpretation von Jean-Toussaint Desanti) und impliziert eine Bearbeitung anderer Schlüsselkonzepte wie Intentionalität, Abstraktion, Ausdruck und Syntax.
Andrea Ariotto ist Doktorand an der Sorbonne Université und an der Universität Turin unter Betreuung von Dominique Pradelle und Massimo Ferrari. Seine Doktorarbeit behandelt die Philosophie der Mathematik von Jean Cavaillès. Mit seiner Präsentation hat Andrea Ariotto die Genealogie des Begriffes der Mannigfaltigkeit rekonstruiert. Der Leitfaden der Mannigfaltigkeit erlaubt es, eine Kontinuität zwischen den frühen und späten Texten Husserls ausfindig zu machen. Eng mit der mathesis universalis verbunden, wird das mathematische Konzept der Mannigfaltigkeit mit den Logischen Untersuchungen zum epistemologischen. Mit der Geschichte dieses Begriffs ist eine Geschichte der Mathematik zu erkennen, die sich bei Husserl bis hin zum Werk Formale und transzendentale Logik erstreckt (insbesondere in den Paragraphen 29-31), in der die Mannigfaltigkeit als das die Mathematik leitende Ideal definiert wird. Dazu hat Andrea Ariotto auf die von Husserl übernommenen Elemente des Leibniz’schen Begriffes der mathesis universalis hingewiesen.
Mark van Atten ist Forscher an dem Husserl Archiv (CNRS/ENS) und ist spezialisiert im Bereich der Phänomenologie und Philosophie der Mathematik. Er hat mit seiner Präsentation das Verhältnis zwischen dem Begriff der definiten Mannigfaltigkeit und den Unvollständigkeitssätzen Gödels erkundet. Mark van Atten hat sich dabei auf die geläufigen Interpretationen von Cavaillès, S. Bachelard, Tran Duc Thao und Dieter Lohmar gestützt, um den Berührungspunkt zwischen dem Husserl’schen Begriff der definiten Mannigfaltigkeit (Ideen I, §72) und den Sätzen Gödels (1931) aufzuzeigen. Die Arbeit Gödels hat einen erheblichen Einfluss auf die Husserl’sche Theorie der Wissenschaft. Dies wird insbesondere in den Paragraphen 29 – 31 von Formale und Transzendentale Logik sichtbar, in denen der Begriff der Vollständigkeit technische Schwierigkeiten mit sich bringt.
Federico Mancini ist Doktorand an der Sorbonne Universität und an der Universität Lecce, seine Doktorarbeit unter Betreuung von Dominique Pradelle und Marco Brusotti behandelt die soziale und fundamentale Ontologie bei Heidegger und Lukács. Seine Präsentation zielte auf den Begriff der Monade. Dazu hat er sich auf die Phänomenologie des italienischen Philosophen Enzo Paci berufen. Nach einem Rückblick auf die verschiedenen intellektuellen Etapen Pacis (Existentialismus, Relationismus, Phänomenologie) hat sich Federico Mancini auf den Kurs zum Problem der Monadologie von Leibniz bis Husserl (1975-1976) fokussiert. Dadurch hat er die Rolle des Begriffes der Monade bei Paci gezeigt, die von einer Synthese zwischen Phänomenologie und Marxismus kennzeichnet ist, welche sich aber von derjenigen bei Desanti oder Tran Duc Thao unterscheidet.
Dominique Pradelle ist Professor an der Sorbonne Universität und ist spezialisiert in der Husserl’schen Phänomenologie, in der Philosophie Kants und in der Philosophie der Mathematik. In seiner Präsentation hat er den Begriff des Eidos als operativen Begriff der Husserl’schen Phänomenologie dargestellt. Dafür wurde das Eidos unter dem Blickwinkel der Logischen Untersuchungen und des transzendentalen Idealismus untersucht. Die Typologie der unterschiedlichen Wesen des Paragraphen 60 der VI. Untersuchung trugen zur Definition des Wesens als idealen Gegenstand bei. Dadurch konnten die Begriffe der Bedeutung und des Wesens in Bezug auf ihren idealen Charakter in Verbindung gebracht werden.
Natalie Depraz ist Professorin an der Universität Paris Nanterre, spezialisiert in Phänomenologie in Themen der Intersubjektivität, der Aufmerksamkeit und des praktischen Wandels der Phänomenologie. Sie hat die Genealogie des Begriffes der epoché dargeboten. Dafür wurden die Wurzeln dieses Begriffs im Skeptizismus und im Stoizismus untersucht. Diese Genealogie betont die Bedeutung der epoché als Enthaltung und Neutralisierung der Geltung. In den Ideen I wird die epoché mit der transzendentalen Reduktion assoziiert. Aus der Einklammerung resultiert die Evidenz. In der Krisis nimmt die Reduktion praktische und ethische Züge an.
Baris Dirican ist Doktorand an der École normale supérieure unter Betreuung von Dominique Pradelle. Seine Doktorarbeit behandelt den Begriff der Identität bei Husserl und Hume. In seiner vorgetragenen Genealogie des Begriffs „Identität“ konnte der Einfluss der Hume’schen Philosophie auf Husserl aufgezeigt werden. Der Begriff der Identität hat metaphysische Ursprünge (Parmenides). In Humes Treatise ist die Identität aporetisch, da sie weder Einheit noch Mannigfaltigkeit ist. Nach Hume löst die Phantasie den Widerspruch der Identität auf, indem sie die Idee der Zeit auf einen einzigen leiblichen Eindruck anwendet. Der Begriff „Identität“ stammt dementsprechend bei Hume aus der Mannigfaltigkeit der Wahrnehmungen. Bei Husserl wird die Identität als Einheit der Mannigfaltigkeit definiert.
Edouard Mehl ist Professor an der Universität Strasbourg. Seine Forschungsgebiete liegen in der Geschichte der modernen Philosophie, in der Metaphysik und der Kosmologie. Seine Präsentation hat die Genealogie des Begriffs der Krisis geliefert. Mit diesem Begriff tritt die Spannung zwischen Phänomenologie und Geschichte in den Vordergrund, bzw. der Konflikt zwischen dem Transzendentalen und der Sterblichkeit. Das Verhältnis Husserls zur Religion, seine Bekehrung und die theologischen Lesarten seiner Phänomenologie (zB bei Jean Héring) wurden untersucht. Die „Krisis“ hat in der Phänomenologie eine eigenartige Bedeutung, die sich vom Historizismus abgrenzt. Um die Tiefe der Krisis-Schrift zu verstehen, soll die ideale Bedeutung Europas betont werden. Die damalige Krisis der Rationalität wurde aus dem Boden der galileischen Wissenschaft rekonstruiert.
Massimo Ferrari ist Philosophie-Professor an der Universität Turin und ist spezialisiert auf das Verhältnis der Husserl’schen Phänomenologie zur Wissenschaft und zum Neukantianismus. In seinem Vortrag wurde der Charakter der Wissenschaftlichkeit in Bezug auf eine mögliche Geschichte der Wissenschaft befragt. Die Phänomenologie ist eine Wissenschaft der Radikalität, indem sie ihren Impuls aus den Sachen selbst und nicht aus der Philosophie entnimmt. Anhand der gründlichen Analyse der Kritischen Ideengeschichte aus dem ersten Band der Ersten Philosophie und der Texte aus Husserliana XXIX hat Massimo Ferrari die Einflüsse für die Husserl‘sche Definition der Wissenschaft dargestellt: Einerseits Platon und Leibniz, andererseits Descartes, Locke und Hume. In Husserls Denken sind drei Phasen zu unterscheiden. Zuerst steht Husserl unter dem Einfluss von seinem Lehrer Franz Brentano, dann besteht er auf der Befreiung vom Psychologismus (Logische Untersuchungen und dann Ideen I) und ist dabei stark von der philosophischen Historiographie des Marburgischen Neukantianismus geprägt (Natorp). Schließlich kommt die genetische Wende vor, in welcher die Historizität eine methodologische Dimension annimmt.
Julien Farges ist Forscher am Husserl Archiv (CNRS/ENS), sein Forschungsthema ist das Verhältnis zwischen Phänomenologie, Neukantianismus und transzendentaler Ästhetik. Er hat sich mit dem Husserl’schen Begriff des Momentes auseinandergesetzt. Durch eine Genealogie dieses Begriffs bei Kant und Hegel (mit seinem Konzept der Aufhebung) wurde der Moment bei Husserl als eine Art „Teil“ charakterisiert. Die Mereologie (die Wissenschaft des Verhältnisses von Teil und Ganzem) wird in der dritten Logischen Untersuchung verwendet und ermöglicht es, ein Moment als Abstraktion und als Teil eines Ganzen zu definieren. Mit dem Übergang in die transzendentale Phänomenologie der Ideen I werden die reell empfundenen Momente in das korrelative Ganze eingefügt. Dieser Zusatz von noetisch-intentionalen Komponenten des „Moments“ lässt einen Unterschied zwischen der phänomenologischen und der mereologischen Abhängigkeit zu Tage treten.
Aurélien Djian ist Doktor der Philosophie. Seine Doktorarbeit hatte das Thema des Horizontes bei Husserl und wurde von Claudio Majolino an der Universität Lille betreut. Die von ihm vorgetragene Geschichte des Begriffs „Horizont“ fing mit den Vorlesungen vom Jahre 1907 Ding und Raum mit dem Konzept des „Halo“ an. Hier, und ausführlicher in der Idee der Phänomenologie, wird der Begriff des Horizontes als Struktur des Bewusstseins eingeführt. Der Horizont bietet eine Synthese der Wahrnehmung, in der mannigfaltige intentional „leere“ Erlebnisse stehen (inaktuelle). Die Wahrnehmung eines Dinges impliziert ein Halo möglicher Erscheinungen, deren Synthese das Horizont ermöglicht.