Bericht über den Workshop „Aktuelle Themen der Phänomenologie“, gehalten am 01.12.2023 am Husserl-Archiv der Universität zu Köln

Raphael Röchter

21st June 2024

Am 01.12.2023 veranstaltete das Husserl-Archiv der Universität zu Köln einen ausgedehnten Workshop-Tag, der versprach, „Aktuelle Themen der Phänomenologie“ zu thematisieren. Die Allgemeinheit dieses Titels war einerseits insofern gerechtfertigt, als hier tatsächlich ein breites Spektrum phänomenologischer Problemkreise abgedeckt wurde; andererseits aber und vor allem verbarg sich dahinter ein feierlicher Anlass, über den der Titel im Vorfeld nicht zu viel verraten sollte, handelte es sich dabei doch um eine Überraschung zu Ehren des seit 2021 emeritierten Prof. Dr. Dieter Lohmar, langjähriger Direktor des Husserl-Archivs in Köln und Husserl-Experte von Weltruhm. Wegen der Pandemie sowie der Renovierung des Archivs konnte Prof. Lohmars Verabschiedung nicht früher gefeiert werden, was im Rahmen des Workshops allerdings gebührlich nachgeholt wurde. Zu diesem Zweck kamen langjährige Kolleg*innen und Freund*innen Lohmars zusammen, die mit ihren Vorträgen und Diskussionen einen abwechslungsreichen Tag gestalteten. Dieser reichte von methodologischen Fragen hin zu Themengebieten wie dem Tagtraum oder dem phänomenologischen Personalismus, sodass ein spezifischerer Titel für die Veranstaltung kaum sinnvoll erscheinen konnte. Besonders erfreulich war es aber, dass viele der Vorträge expliziten Bezug zu Prof. Lohmars eigener Forschung herstellten, insbesondere zu seinen Beiträgen über die Reduktion und zur Phänomenologie des nicht-sprachlichen Denkens, sodass die synthetische Einheit des roten Fadens gewissermaßen durch den zu würdigenden Emeritus selbst hergestellt wurde, der dem Anlass entsprechend nach jedem Vortrag das erste Wort erhielt.

Ich möchte versuchen, die Vielfalt der dargebotenen Beiträge kurz abzubilden, wobei eine sehr skizzenhafte Wiedergabe der jeweiligen Kerngedanken hier genügen muss. Den Auftakt des Tages machte Rudolf Bernet, seinerseits ehemaliger Direktor des Husserl-Archivs in Leuven, der sich der Frage nach dem ‚Irreduziblen‘ widmete: Wenn die Methode der Reduktion sämtliche Geltungsanspruche durch deren Rückführung auf anschauliche Erfahrung auszuweisen anstrebt, so lassen sich die unterschiedlichen Erfahrungsböden für Evidenz, die dabei freigelegt werden, als jeweiliges Irreduzibles, also Unbedingtes, Fundierendes betrachten; hierbei thematisierte Bernet vor allem die Reduktion auf den reellen Bestand im Rahmen der 1. Auflage der Logischen Untersuchungen, zu der auch Lohmar schon publiziert hatte, sowie den Status der Urimpression im Zusammenhang mit Husserls Analyse des Zeitbewusstseins. An das Thema der Zeitkonstitution konnte der Vortrag von Takuya Nakamura von der Doshisha Universität in Kyoto anschließen, der es sich zur Aufgabe gesetzt hatte, den Zusammenhang zwischen den Problemen von Zeit und Ich in den Bernauer Manuskripten (genauer: in den Manuskripten Nr. 14 und 15) aufzuzeigen. Damit wollte Nakamura insbesondere die Bedeutung der Bernauer Manuskripte als Übergangsanalysen zwischen den frühen Vorlesungen zum Zeitbewusstsein und den späteren C-Manuskripten herausstellen; wie er konkludierte, habe Husserl das Verhältnis von Ich und Zeit hier im Sinne der Überzeitlichkeit des fungierenden Ich verstanden, das gerade wegen dieser Überzeitlichkeit nicht in der Reflexion fassbar sein könne. Die so aufgedeckten Probleme der Nicht-Vergegenständlichbarkeit des Ich weisen somit auf Husserls spätere Zeitanalysen hin, in denen sie als Frage nach der lebendigen Gegenwart und dem ‚Ur-Ich‘ wiederaufgegriffen wurden.

Nach der Mittagspause folgten Vorträge zu ganz verschiedenen Themen: Zunächst sprach Michela Summa von der Universität Würzburg über das Phänomen des Spiels aus handlungstheoretischer Perspektive; contra Davidson entwickelte Summa unter Rückgriff auf Gadamer, Huizinga und Buytendijk eine Betrachtungsweise des Spiels als Intentionalität und Weltkonstitution. Darauf folgte Saulius Geniusas, aus Hong Kong angereist, mit einem Vortrag über Tagträumen und Selbstbewusstsein. Dabei fragte er nach dem Verhältnis zwischen dem Tagtraum und anderen imaginativ-phantastischen Bewusstseinsformen, insbesondere dem ‚mindwandering‘, im Hinblick auf deren jeweilige Weise der Welthabe bzw. des Weltverhältnisses und die Rolle von Aufmerksamkeit und Selbstbewusstsein. Den Versuch einer eidetischen Bestimmung des Tagtraums machte er schließlich entlang des bei Theodor Conrad entliehenen Begriffes der ‚Versetztseinserlebnisse‘ (‚displaced experience‘). Geniusas‘ Vortrag bot einige Möglichkeiten, in der anschließenden Diskussion an den von Dieter Lohmar geprägten Begriff des ‚szenisch-phasmatischen Systems‘ im nicht-sprachlichen Denken anzuschließen. In eine gänzlich andere Richtung wies wiederum Sebastian Luft aus Paderborn, der über Gerda Walthers Theorie der Konstitution sozialer Gemeinschaften sprach; den Anlass dafür bot die von Luft angestellte Übersetzung von Walthers Dissertation Ein Beitrag zur Ontologie der sozialen Gemeinschaften (1923) ins Englische.

Daraufhin folgte Andrea Staiti aus Parma mit einem Vortrag über Personalismus und Charakter in der Phänomenologie; den Ausgangspunkt seiner Betrachtungen stellte die Debatte um Dispositionalismus und Situationismus in der Moralpsychologie dar, die als entgegengesetzte Positionen laut Staiti auf derselben, phänomenologisch unhaltbaren Annahme beruhten, dass Charakter ein bloßes explanans für Verhalten (als explanandum) sei. Demgegenüber ging es Staiti darum, den spezifisch phänomenologischen Begriff der Person bzw. die personalistische Einstellung, die ‚Person‘ als Urgegenständlichkeit der Region des Geistigen auffasst, sowie (entlang der Ideen II) die Leib-Geist-Beziehung als Ausdruckseinheit (statt in der naturalistischen Einstellung als kausale Einheit) geltend zu machen. Den Abschluss des Tages machte schließlich Emanuele Caminada, ebenfalls aus Leuven, der über Erfahrung und Urteil und den Zusammenhang zwischen Sprache und vorprädikativer Erfahrung referierte.

Die Feier von Dieter Lohmars Emeritierung, das Line-up der Sprecher*innen und die Bandbreite phänomenologischer Themen fand ein großes Publikum und brachte das Husserl-Archiv über den Tag hinweg an die Grenzen seiner räumlichen Kapazitäten – von dem begleitenden Zoom-Raum ganz zu schweigen –, wobei sich neben anderen philosophisch und phänomenologisch Forschenden auch Studierende im Archiv einfanden. Während der Workshop-Tag also in erster Linie „Get-together“, Austausch und Feier war, bat er somit auch für Interessierte die Gelegenheit, Einblicke in die aktuelle phänomenologische Forschung zu bekommen. (Eine Publikation, in der die Beiträge noch einmal nachvollzogen werden können, wird außerdem angestrebt.) Beim anschließenden gemeinsamen Abendessen konnte die Feier dann fortgesetzt, die Diskussionen noch einmal vertieft und dieser reichhaltige Tag schließlich ausgeklungen werden.