Tagungsbericht des Doktorandenkolloquiums "Die Aktualität der Phänomenologie", Nizza, 14.-16. März 2024

Jérôme Watin-Augouard

7th June 2024

(übersetzt aus dem Französischen von Amalia Trepca)

Dieses Doktorandenkolloquium, organisiert von Benjamin Busquet (CRHI - UCA-Nizza), Irène Ranson (CRHI - UCA-Nizza), Amalia Trepca (IPhiG - UGA) und Jérôme Watin-Augouard (IPhiG - UGA), schließt an eine erste Veranstaltung an, die im vergangenen Jahr am 15. Juni 2023 an der Universität Lyon 3 stattgefunden hat. Ziel war es, die Doktorandinnen und Doktoranden der Mitgliedslabore der Groupe de Recherche et d’Analyse des Phénoménologies (https://irphil.univ-lyon3.fr/groupe-de-recherche-et-danalyse-des-phenomenologies-graph) zusammenzubringen. Dieses Diskussionsformat wurde dieses Jahr an der Universität Nizza Côte d’Azur fortgesetzt, diesmal in Partnerschaft mit dem Doktorandenkolleg Neue Phänomenologien zwischen Frankreich und Deutschland, das von Grégori Jean (CHRI-Nice UCA) und Alexander Schnell (ITP-Bergische Universität Wuppertal) geleitet wird. Die Beiträge und Diskussionen konzentrierten sich dieses Jahr auf die Aktualität der Phänomenologie, verstanden in einem doppelten Sinn; nämlich einerseits in dem Sinne danach fragend, was die zeitgenössischen phänomenologischen Forschungen und ihre aktuellen Debatten antreibt, und andererseits im Sinne der Fähigkeit der Phänomenologie, auf die sozialen, politischen, ökologischen und technischen Herausforderungen unserer Zeit zu antworten.

Am ersten Tag durften wir einen Vortrag von Alexander Schnell hören, der mit seinem Projekt der konstruktiven oder generativen Phänomenologie seit mehreren Jahren zur Aktualität der Phänomenologie beiträgt. Im Rahmen dieses Projekts kam Schnell aus einer eher historischen Perspektive auf den Begriff der Wahrheit zurück, und zwar insbesondere im Denken Derridas. Nach einem Vergleich mit den Positionen Heideggers und Fichtes entwickelte A. Schnell ausführlich den Begriff der „Schrift“ bei Derrida, ausgehend von seiner Lektüre des „Phaedrus“ in „Platons Pharmazie“ und unter Betonung der zentralen Bedeutung des Begriffs der „Wiederholung“ für Derridas Verständnis der Wahrheit. Die Diskussion drehte sich zunächst um die Art und Weise der Attestierung der generativen Phänomenologie, die sich nicht auf eine Objektivität berufen könne, deren Kriterium bereits als Ausgangspunkt vorausgesetzt werde, und anschließend um die Frage, ob es sinnvoll sei, den Begriff der Wahrheit im Regime der konstruktiven Phänomenologie beizubehalten, wenn sie sich gerade auf einer generativen Ebene jenseits jeglicher Objektivität bewegen wolle. Eine Frage, die so alt ist wie die Unterscheidung zwischen Philosophen und Sophisten, antwortete A. Schnell. Der Vortragende bestand auf die Notwendigkeit, diese Unterscheidung aus der Sicht einer Philosophie, die zwar keine objektiven Wahrheitskriterien voraussetzt, aber dennoch die Existenz des Falschen anerkennt, aufrechtzuerhalten. Schließlich wurde eine Frage zum Konzept der (Derridaschen) Dekonstruktion im Gegensatz zum Konzept der Generativität oder der phänomenologischen Konstruktion formuliert: Welchen Sinn hätte diese „Dekonstruktion“ im Regime der phänomenologischen „Konstruktion“ und worauf bezieht sich diese „Konstruktion“? Was soll phänomenologisch „konstruiert“ werden? Nachdem A. Schnell klargestellt hatte, dass es keinen kanonischen Gebrauch der Dekonstruktion geben könne, wies er darauf hin, dass die konstruktive Phänomenologie zwar nie abgeschlossen sei und dass es verschiedene Arten der Konstruktion gebe, dass der Ansatz aber dennoch eine gewisse „Rigidität“ aufweise, da die Konstruktionen dazu bestimmt seien, Ergebnisse zu liefern.

Ein erster Schwerpunkt der Tagung bestand darin, die Frage nach der Beziehung zwischen Phänomenologie und kritischer Theorie oder zumindest nach der kritischen Reichweite der Phänomenologie zu stellen.

Paul Slama (ITP-Berg. Univ. Wuppertal/ Alexander von Humboldt Stiftung) schlug in seinem Vortrag vor, die Intentionalität zu dekonstruieren, indem er auf dem normativen Rahmen bestand, der das praxeologische Feld konstituiert, innerhalb dessen jede intentionale Zielsetzung ausgeübt wird und das im Gegenzug das intentionale Subjekt in ein gemeinschaftliches Subjekt verwandelt. Diese kontextualistische Theorie der Intentionalität würde somit bedeuten, die These „einer völlig historischen und kontingenten Situation des Erscheinens“ und einer Immanentisierung der Phänomenalität zu verteidigen, gegen das, was P. Slama als Phänomenologien des Exzesses, des Mysteriums und des Bruchs identifiziert, und auch gegen die transzendentalen Phänomenologien, die darauf abzielen, ein absolutes Apriori herauszuarbeiten. Die anschließenden Diskussionen drehten sich dann um die Methode der Epoché: Kann oder muss eine solche kontextualistische und normative Theorie der Intentionalität und des Erscheinens noch eine Epoché praktizieren, und wenn ja, welche Art von Epoché? Ebenso stellt sich die Frage, welchen Platz die Freiheit einnehmen soll. Und wie können die verschiedenen normativen Kontexte miteinander verknüpft werden? Setzt eine solche Theorie nicht eine Art Einheit voraus, die die Geschichte als apriorische Form wäre, welche die verschiedenen normativen Regime vereinheitlichen würde?

Antoine Gilliard (IPhiG - UGA) erläuterte das Projekt des jungen Marcuse, die Hegelsche Dialektik und die Heideggersche Phänomenologie miteinander in Einklang zu bringen, und zwar vor dem Hintergrund eines Beitrags zu der theoretischen Entwicklung des Marxismus. Tatsächlich schrieb Marcuse zwischen 1928 und 1933, während er an der Universität Freiburg unter Heideggers Leitung eine Habilitationsschrift über Hegels Ontologie vorbereitete, eine Reihe von Artikeln, deren Originalität darin bestand, dass sie eine programmatische und synthetisch-dialektische Theorie entwarfen, die ebenso phänomenologisch wie kritisch war. A. Gilliard stellte zunächst kontextualisierende Elemente der marcusianischen Originalität auf. In einem zweiten Schritt ging er auf die Artikulationen ein, die die Ausarbeitung dieses Syntheseprojekts ermöglichen: 1) das Phänomen der Geschichtlichkeit, 2) die Erkenntnis als Aneignung, 3) die Zerstörung des Gegebenen oder der Horizont einer freien Möglichkeit. In einem dritten und letzten Schritt versuchte er, einige Lektüreansätze aufzuzeigen, um eine mögliche Aktualität des marcusianischen kritischen Projekts zu skizzieren, und zwar indem er sie an der Kreuzung von Dialektik, Phänomenologie und kritischer Theorie in ihrer feministisch-materialistischen Zuspitzung (S. de Beauvoir, M. Wittig, L. Fortunati, A. Davis) ansiedelte.

Aus derselben Perspektive bot Nikos Ruhlig (ITP-Berg. Univ. Wuppertal) eine Einführung in die grundlegenden Problematiken der kritischen Phänomenologie. Seine Hauptthese bestand darin, zu zeigen, dass es der kritischen Phänomenologie durch ihre Hybridität zwischen Phänomenologie und Sozialtheorie einerseits gelingt, die Sphäre der ursprünglichen Erfahrung als Quelle der Kritik zu reaktualisieren, und dass andererseits ein solcher Diskurs durch seine Öffnung hinsichtlich der Themen Intersektionalität, Herrschaftskritik und Subjektivierung eine Wiederaufnahme der ursprünglichen konzeptuellen Probleme der „klassischen“ Phänomenologie ermöglicht. So diskutierte Ruhlig, wie die kritische Phänomenologie eine dialektische Vermittlung bieten kann zwischen : 1) individueller Erfahrung und sozialer Struktur, ausgehend von dem von Lisa Guenther formulierten Vorschlag, Archive in den phänomenologischen Diskurs einzuführen, 2) zwischen Unmittelbarkeit und Vermittlung – dank ihrer interdisziplinären Methoden bietet die kritische Phänomenologie gerade die Möglichkeit, über den Körper und die Erfahrung als Struktur der vermittelten Unmittelbarkeit zu reflektieren, 3) schließlich wurde in dem Vortrag eine dritte Spannung hervorgehoben – zwischen der Notwendigkeit eines historischen Apriori und der Kontingenz, die einer Philosophie der Weltanschauung eigen ist – anhand einer kurzen Beschreibung der Husserl-Dilthey-Debatte und durch die Darstellung von Guenthers Konzeption des „Quasi-Transzendentalen“ als eine Option zur Vermittlung zwischen den beiden Positionen.

Der Beitrag von Jérôme Watin-Augouard (IPhiG - UGA) bestand darin, die kritische Aktualität der „nicht-standardmäßigen“ Phänomenologie von Marc Richir als an-archische, ja sogar anarchistische Phänomenologie in einem singulären Sinn darzulegen, der kürzlich von Jean-François Perrier offengelegt wurde. J. Watin-Augouard schlug daher vor, diesen Interpretationsweg fortzusetzen, indem er die Phänomenologie Richirs mit der „Theorie des anarchischen Zustands“ von Frédéric Lordon konfrontierte. Es ging darum, mehrere Gemeinsamkeiten zwischen den beiden Ansätzen aufzudecken, deren wichtigste darin besteht, eine „kritische Axiologie“ der Institutionen vorzuschlagen, die sich auf ein ursprüngliches oder archaisches, anarchisches affektives Register stützt und ein normatives Bewertungskriterium liefert, nämlich das der Institutionen als „Flüssigkristalle“ (Lordon) oder als „sich bildende Institutionen“ (Richir). Der Vortrag untersuchte auch den Hauptunterschied in der Interpretation dieses affektiven Registers – ein Unterschied, der auf die Anwendung oder Nichtanwendung der Epoché zurückzuführen ist, insbesondere in der von Richir vorgeschlagenen hyperbolischen Version der Epoché: Während Lordon dieses Register als das von vornherein gemeinsame und soziale der „Macht der Menge“ interpretiert, besteht Richir seinerseits mit dem Begriff der transzendentalen Interfaktizität auf den anonymen, aber irreduziblen Singularitäten, die innerhalb dieses anarchischen Registers am Werk sind. J. Watin-Augouard schloss daher mit dem Hinweis auf die Kraft und kritische Aktualität der richirianischen Phänomenologie in der zeitgenössischen intellektuellen Landschaft, die auf einem Anarchismus beruhen, der die Notwendigkeit von Institutionen anerkennt und eine Utopie des Sozialen, die Singularitäten nicht ausschließt, wiedererwecken will. Die Diskussion drehte sich hauptsächlich um das politische Interesse einer solchen Phänomenologie. J. Watin-Augouard räumte ein, dass diese nichts unmittelbar Verwendbares wie präzise und bestimmte Regeln für das Handeln liefern könne, betonte aber dennoch, dass sie es ermögliche, ein axiologisches und kritisches Kriterium herauszuarbeiten, das zwar allgemein oder formal sei, aber dennoch die Bewertung konkreter, tatsächlich existierender Institutionen ermögliche.

Die Frage der Affektivität bildete einen zweiten Schwerpunkt, der im Mittelpunkt mehrerer anderer Vorträge stand, darunter der von Irène Ranson (CHRI - UCA-Nizza), deren Ziel es war, ausgehend von Michel Henrys Gedanken die Grundsteine für eine „phänomenologische Theorie der affektiven Entfremdung“ zu legen. Es ging darum, diese Entfremdung als eine existenzielle Notwendigkeit darzustellen, die mit dem Erscheinen des Lebens bei jeder Individuation koextensiv ist. Nach I. Ranson ist der Nutzen einer solchen Theorie vielfältig. Zunächst einmal – und das ist ihr originellster Zug im Vergleich zu Marx – ist diese Theorie nicht „dialektisch“ im eigentlichen Sinne, sondern stellt die Frage nach der Beziehung zwischen Immanenz (Affektivität) und Transzendenz (Freiheit). In weiterer Folge ermöglicht die Tatsache, dass diese affektive Entfremdung eine existentielle Notwendigkeit ist, die für die Menschheit konstitutiv ist, eine Verschiebung der Koordinaten des Problems, wobei die Frage nicht mehr so sehr darin besteht, die Entfremdung zu beseitigen oder sich von ihr zu emanzipieren, sondern vielmehr damit umzugehen, insofern als sie für unsere Freiheit konstitutiv ist. I. Ranson schloss seine Ausführungen mit dem Hinweis auf diese Freiheit, die nicht mehr als absolute Macht, sondern als Macht, sich mit einer ursprünglicheren konstitutiven Macht, der Affektivität, abzustimmen, neu gedacht wird. Die absolute Einzigartigkeit jedes Lebewesens wäre der Ort der Artikulation zwischen Immanenz und Transzendenz, ohne präexistente Normen, und der Selbsterfahrung, dem Gefühl dieser Einzigartigkeit durch die Ausübung der eigenen Freiheit in Verbindung mit einer ursprünglichen Affektivität.

Seongkyeong Joung (ITP-Berg. Univ. Wuppertal) schlug dann vor, die „Anonymität des transzendentalen Lebens“ bei drei Phänomenologen zu erforschen: Husserl, Henry und Richir. Anonymität bezeichnet das Paradoxon eines Lebens, das bereits mit einem Verständnis seiner selbst gelebt wird, während es Schwierigkeiten hat, dieses zu artikulieren. Anonymität und Selbstverständnis sind zwei Seiten derselben Medaille, die die transzendentale phänomenologische Aufklärung begründet. Das transzendentale Leben bezieht sich seinerseits auf das reflexive Leben und die verborgene Natur des natürlichen, präreflexiven Lebens. S. Joung hat gleich zu Beginn klargestellt, inwiefern keiner der drei Autoren den Ausdruck einer „Anonymität des transzendentalen Lebens“ vollständig akzeptieren würde: Für Husserl betrifft die Anonymität vor allem das natürliche Leben, das durch die phänomenologische Reduktion aufgeklärt wird, während die Anonymität des „funktionierenden transzendentalen Lebens“ jenseits dieser Voraussetzung kaum explizit analysiert wird. Für Henry ist das transzendentale Leben nur dann unsichtbar, wenn es objektiviert wird: Es ist selbstoffenbarend und niemals anonym. Für Richir schließlich ist die transzendentale Anonymität charakteristisch für das entstehende Denken, aber nicht für das „Leben“. S. Joung hat somit gezeigt, dass bei dieser Spannung zwischen den drei Autoren der Widerspruch zwischen der von Husserl vorausgesetzten Überwindung der Anonymität und ihrer Unüberwindbarkeit der Schlüssel ist, obwohl Husserl nicht die Mittel zur Klärung dieses Widerspruchs anbietet. Henry argumentiert, dass die Naivität, die Husserl überwinden wollte, das wahre transzendentale Leben als Ausgangs- und Zielpunkt enthält. Richir wiederum ermöglicht es, die Anonymität des Lebens als die der Konstitution der Welt und die der Geburt des Denkens zu unterscheiden. Die anschließenden Diskussionen mit dem Publikum drehten sich hauptsächlich um die Polysemie des Begriffs der Anonymität, der entweder negativ das Unpersönliche und Neutralisierte im Gegensatz zum „echten“ Individuum oder positiver die Allgemeinheit der Individualität oder Faktizität als solche bedeuten könnte.

Die Frage des affektiven Lebens wurde auch von Benjamin Busquet (CHRI - UCA-Nizza) anhand einer Kritik des phänomenologischen Perspektivismus behandelt. Er stützte sich dabei auf Beschreibungen aus der Kinderpsychologie (Sally Anns Experiment), aber auch auf Lévi-Strauss’ Beschreibung des ethnozentristischen Vorurteils und wies auf die Schwierigkeiten einer Phänomenologie der Wahrnehmung hin, bestimmte affektive Erfahrungen zu beschreiben, bei denen das Subjekt nicht in der Lage ist, die Besonderheit seines Standpunkts zu umschreiben. Auf der Grundlage eines phänomenologischen Dualismus vertrat B. Busquet die eidetische Unmöglichkeit, sich auf dieselbe Weise zu erleben, wie man sich wahrnimmt, indem er die großen Etappen des Vergessens dieses Dualismus in der phänomenologischen Tradition rekonstruierte, bevor er Henrys Kritik an diesem phänomenologischen Perspektivismus darstellte. Henrys Originalität besteht darin, dass er den phänomenologischen Dualismus unterstützt und die Besonderheit des affektiven Lebens anerkennt: Das Gefühl oder der Affekt offenbart sich als besonders für unsere Person, aber dennoch unveränderlich. Insbesondere auf der Grundlage von Henrys Nietzsche-Lektüre hat B. Busquet das Paradoxon des affektiven Lebens aufgezeigt: Schmerz oder Freude werden gleichzeitig als unsere eigenen und als die aller anderen empfunden. B. Busquet schloss mit dem Hinweis auf die Notwendigkeit, eine Phänomenologie der Immanenz herauszuarbeiten, die die Mittel bereitstellen würde, eine Reihe von Grundeinstellungen phänomenologisch zu beschreiben, durch die das Leben seinen allgemeinen und ungeteilten Charakter offenbart: die Dummheit, die Naivität des Kindes, die ethnozentrische Einstellung usw. Die Diskussion drehte sich somit um das Interesse oder den Nutzen einer solchen henryschen Perspektive, insofern als sie es ermöglicht, diese Einstellungen zu erfassen.

Ein dritter Schwerpunkt bestand in den Beziehungen der Phänomenologie zu Fragen der Ökologie und der Technik.

In seinem Vortrag zielte Julien Courtial (PHIER - UCA-Clermont-Ferrand) darauf ab, die komplexen Beziehungen zwischen der Phänomenologie und der Ökosophie des norwegischen Philosophen Arne Naess (1912-2009) zu beleuchten, indem er aufzeigte, inwiefern die Ökosophie originelle Wege bieten kann, um die Beziehung zwischen einer ökologisch informierten Weisheit des Wohnens und einer Phänomenologie der spontanen Erfahrung zu denken. In seinem Werk Écologie, communauté, style de vie legt Naess den Grundstein für sein ökosophisches Denken anhand des Begriffs der Gestalt, die er als eine Konfiguration, eine Anordnung definiert, in der die Erfahrung des Teils durch die Apperzeption des Ganzen bestimmt wird. J. Courtial legte Naess’ holistische und relationale Ontologie aus der Perspektive eines Realismus der zweiten und dritten Qualitäten dar und zeigte, wie Naess’ Phänomenologie der spontanen Erfahrung auf ihre eigene Überwindung in Richtung einer holistischen und relationalistischen Metaphysik hinweist. J. Courtial versuchte zu zeigen, wie dieser Ansatz einen alternativen Weg zwischen einer Ökophänomenologie im engeren Sinne und einer Umweltethik, die auf einer abstrakten Konzeption der Umwelt beruht, skizzieren kann. In der Diskussion wurde deutlich, wie schwierig es ist, aus dem Kriterium der Zugehörigkeit zur Welt eine kritische und ethische Axiologie abzuleiten: Eine gute Form als Wahrnehmungsnorm würde nicht zwangsläufig zu einer guten Handlung als ethischer Norm führen.

In seinem Vortrag stellte Thomas Sentis (Ecole Polytechnique/IPhiG - UGA) die Frage, inwiefern die Phänomenologie aktuell sein kann. In einem ersten Sinne entspräche die Phänomenologie unserer Epoche, weil sie, einigen von T. Sentis mobilisierten Texten Heideggers aus den 1960er Jahren folgend, der Metaphysik in ihrer vollendeten Form, der der Technik, angehöre. Die Technik, als Wesen des Seins in unserer Epoche, würde also die Phänomenologie erstens aufgrund ihres Gegenstandes, des gegenwärtigen Seienden, das als verfügbarer Bestand konstituiert ist, und zweitens aufgrund ihres Vorgehens, ihrer Methode, bestimmen. In einem anderen Sinn wäre die Phänomenologie auch aktuell, weil sie eine Möglichkeit ist, die sich unserer Epoche entzieht: Dies deutet Heidegger zur gleichen Zeit an, indem er den Ausdruck aus „Sein und Zeit“ aufgreift, wonach die Phänomenologie „als Möglichkeit“ zu erfassen ist. Dieser Aufruf lädt somit laut T. Sentis zu zwei Neubewertungen. Einerseits hätte die Phänomenologie keinen Gegenstand, der ihr im Voraus gegeben wäre, sondern sie bezieht sich auf irgendetwas im Allgemeinen: Es ist die Erfahrung, die in ihrer Möglichkeit genommen wird, d.h. jenseits oder unterhalb einer konstituierten Effektivität, Präsenz oder eines konstituierten Sinns. Andererseits weist die permanente Möglichkeit, die die Phänomenologie darstellt, auf die Dekonstruktion der Herrschaft der Technik und die Öffnung unserer Gegenwart für eine unbestimmte Zukunft hin. T. Sentis schlug daraufhin vor, unsere Zeit als „Zeit der Technik“ zu verstehen, nicht mehr im Sinne einer Zeit, die der Herrschaft der modernen Technik unterworfen ist, sondern im Sinne einer Zeit, die ihrer offensten Möglichkeit zurückgegeben wird, die sich in der technischen Dimension der Erfahrung offenbart. Die Diskussion drehte sich um die Schwierigkeit, Heideggers Ende der 1960er Jahre formulierte Feststellung eines Zeitalters der Technik aufzugreifen, um unsere eigene Zeit und mit ihr die Zukunft der Phänomenologie zu denken. T. Sentis fragte, ob es nicht besser wäre, davon abzusehen, unserer Epoche einen Namen geben zu wollen, und stattdessen Historiker der Gegenwart zu werden. Was soll die Phänomenologie also in Ermangelung eines epochalen Konzepts leisten?

Carolina Maldonado (ITP-Berg, Univ. Wuppertal) gab anschließend einen Überblick über das Denken des späteren Heideggers als nicht-metaphysisches und nicht-technisches Denken der Beziehungen zur Natur, das sich um die Begriffe Ereignis, Geviert und Gelassenheit gruppiert. Sie zeigte insbesondere auf, inwiefern Gelassenheit als menschliche Seinsweise sowohl ein Ja als auch ein Nein zur Technik ist, was eine versöhnliche Haltung in unserer Art, die Erde zu bewohnen, ermöglicht, indem wir das repräsentative Denken der Metaphysik aufgeben, das uns zur Herrschaft und Ausbeutung der Natur und des Anderen führt.

Ein vierter und letzter Schwerpunkt bestand schließlich darin, die Aktualität der Phänomenologie von den Fragen der Geschichte und des Ursprungs aus zu befragen.

So stellte Juan José Rodriguez (ITP-Berg. Univ. Wuppertal) Patočkas Geschichtsphilosophie vor, in ihrem Versuch, sich sowohl vom objektiven Materialismus als auch vom Husserlschen Subjektivismus zu distanzieren. Es ging darum, konkret zu veranschaulichen, was Patočka die Bewegung des menschlichen Lebens durch die Kategorien der Freiheit, der Anerkennung und der Liebe nennt – eine Art und Weise, wie der Phänomenologe die Tradition des Idealismus und des Existentialismus erneuern wollte. J.J. Rodriguez betonte, dass diese Bewegung des Lebens weder in Klassenkämpfen noch in Konflikten um den Platz eines Subjekts in Bezug auf die wirtschaftliche Produktion ende: Patočka lehnt die Anonymität eines historischen Subjekts ab, das das Produkt gesellschaftlicher Kräfte sei und nur in einer historischen Entwicklung nach einer vorgegebenen Logik ans Licht komme. J.J. Rodriguez erläuterte somit den Begriff der Bewegung unter Bezugnahme auf die kritischen Einflüsse von Aristoteles, aber auch von Husserl und Heidegger, und fasste dann die drei Bewegungen des menschlichen Lebens nach Patočka zusammen: 1) eine generativ-affektive Bewegung der herzlichen Aufnahme in die Welt, 2) eine Bewegung der Selbstbehauptung gegen Andere in der sozialen Welt und der Dringlichkeit der Gegenwart und 3) eine Bewegung der Selbstaufgabe an die prospektive Wahrheit, die sich dem entfremdeten und egozentrischen Leben widersetzt und die absolute Einzigartigkeit des eigenen Seins als Auftrag für Andere entdeckt. In der Diskussion wurde zunächst die Frage nach dem Übergang von der Endlichkeit der Singularitäten zur Unendlichkeit und vor allem nach dem Status dessen, was diesen Übergang ermöglicht, weiterentwickelt: Handelt es sich um ein Gemeinsames, aber um welches? Nachdem klargestellt worden war, dass die natürliche Dimension bei Patočka nicht auf die materielle Dimension reduzierbar war – die betreffende Phänomenologie ist kein Marxismus – blieb die Frage offen, wie diese Dimension zu präzisieren sei.

Filip Borek (Karls-Universität, Prag) widmete seinen Vortrag der Aktualität des Ursprungsdenkens in der Phänomenologie. Dabei ging es ihm weniger darum, eine Lösung für das Problem des Ursprungs vorzuschlagen, als vielmehr Hypothesen zu formulieren, die eine fundierte Antwort auf die Frage ermöglichen, ob die Phänomenologie (noch) ein Denken des Ursprungs sein sollte. F. Borek betonte, dass der Begriff des Ursprungs und seine Synonyme halboperationale Begriffe seien und dass es daher notwendig sei, das Phänomen des Ursprungs als solches zu betrachten, seine wesentlichen Momente zu analysieren und es mit anderen ähnlichen Phänomenen wie dem Fundament oder der Bedingung der Möglichkeit zu vergleichen. Auf der Grundlage einer solchen Voranalyse, die von der De-Metaphorisierung des Ursprungsbegriffs ausgeht, könnte es somit möglich sein, zu bestimmen, was das Denken des Ursprungs sein sollte. F. Borek betonte dann die Relevanz eines Denkens des Ursprungs als Frage (bei Husserl), als Rückstoß (bei Fink) oder als Rückprojektion (bei Richir), indem er sie als verschiedene Möglichkeiten darstellte, die Reflexion über diese Kategorie zu eröffnen, bevor er mit der Frage schloss, ob und unter welchen Bedingungen es möglich sei, den Ursprung der Phänomenalität zu denken. Die Diskussion konzentrierte sich hauptsächlich auf die „schöpferische Kraft“, die der Erscheinung zugeschrieben, und auf die kosmologische Dimension der „Ontogenese“, insbesondere im Hinblick auf die Gedanken von Renaud Barbaras. Die Frage war, ob es dieser kosmologischen Dimension bedurfte, um die schöpferische Kraft der Erscheinung zu denken, oder nicht.