Am 2. und 3. Mai 2024 ging die Darmstädter Vortrags- und Workshopreihe Praktische Philosophie und Phänomenologie in eine neue Runde: Dieses Mal durfte PD Dr. Jörg Sternagel (Konstanz) als Gast begrüßt werden, um mit ihm gemeinsam sein neues Buch Ethik der Alterität – Aisthetik der Existenz zu besprechen. Dieses Werk in essayistisch-„polyphonem“ Schreibstil inszeniert die Suche nach einer Ethik der Alterität in der vollzogenen Bewegung der Leseerfahrung selbst, durch die lebendige, „überraschende“ und „beunruhigende“ Begegnung mit Philosophie und Literatur sowie anhand exemplifizierten zwischenleiblichen Aufeinandertreffens in der Kunst.
„Die Erfahrung der Lektüre mutet überraschend leiblich an, setzt nicht nur das Denken, sondern auch die Sinne in Bewegung, mit jedem Aufschauen verändert sich ein Stück weit die Beziehung zum Raum, zu den sie umgebenden Menschen, erstaunlich oft bleibt der Blick auf Händen, Blicken haften.“ (Tanja Wischnewski)
Im Kontrast zur englischen Ausgabe des Buches verzichtete der Autor für die deutsche Ausgabe bewusst auf ein Cover-Bild, auch wenn die Polaroid-Fotografie der Künstlerin Andrea Gaytán Tassier die Themen stimmig zum künstlerischen Ausdruck bringt. Dies ist nicht der einzige auffallende Unterschied der beiden Ausgaben: Ursprünglich bietet das Original auch keine Einleitung an, es startet in medias res, indem die „Mitte“ schließlich besonderen Zugang zur Sache eröffnen kann. Aber was ist eigentlich mit der Mitte zwischen den Dingen, zwischen mir und Anderem, zwischen mir und den Anderen? Das Medium als ein Zwischen ist keinesfalls leer und doch entzieht es sich jeglicher Bestimmung durch ein erkennendes, einzelnes Bewusstsein. „Dazwischen ist Nirgendwo“, dennoch „funktioniert“ und „kommuniziert“ es – so kann bzw. muss es als ein Ermöglichendes „umkreist“ werden.
Inspiriert durch den Donnerstagabendvortrag „Auf dem Weg zu Anderen – Erkundung des Medialen“, gefolgt vom anregenden Ausklang beim gemeinsamen Abendessen, fanden sich am nächsten Vormittag alle wieder zum Workshop ein. Im Rahmen dieses gängigen Formats der Reihe wird meist mit zwei Impulsreferaten begonnen: Vanessa Ossino (Köln, Fribourg) und Tanja Wischnewski (Hildesheim) eröffneten mit ihren Respondenzen pointierte Perspektiven als Diskussionseinstieg.
Was ist es, das medial vermittelt-möglich wird? Gerade diese Frage nach dem Was und dem Wie des Dazwischen ist für Sternagel der Weg zu Anderen. Entsprechend der das Buch leitenden Praxis des Performativen verkörperten die beim Workshop am Tisch Versammelten einen kommunikativen Zwischenraum in seinem Doppelaspekt von Trennung und Nähe. Dabei sind es keine endgültigen Antworten, nach denen dort im Workshop – genau wie hier in vorliegender Reflexion – gesucht wurde: Fragen wurden explorierend gestellt und gemeinsam weitergesponnen, im Antworten als lebendigem Ausdruck eines Zwischengeschehens unter Anderen.
In der Diskussion ergab sich etwa, dass das Dazwischen zunächst dem Abstand zum Anderen entspricht, welcher einen schmerzhaft auf sich selbst zurückwerfen und sich nach diesem Selbst suchen lässt. Etwa mit Waldenfels ist die Alterität dem leiblichen Selbst qua seiner eigenen Leiblichkeit stets präsent, während sie dabei immer auch ‚der Andere‘ ist. Damit ergibt sich das Dazwischen als ein „Zwischenraum der Alterität“.
„Wir glauben uns zu kennen und wollen uns finden. Wir wollen zu uns selbst kommen und dabei werden wie die Anderen.“ (Jörg Sternagel)
In einem Aspekt der ethischen Dimension des Medialen wäre hier nicht nur von Ermöglichung, sondern sogar vom Imperativ zur Selbstreflexion zu sprechen. Daneben entfaltet jene Distanz wiederum erst das Dazwischen mit der Konstitution seiner beiden Endpole – des Selbst und des Anderen. Dies ist ein Spannungsfeld mit produktivem Potential, d.h. zum Eintreten in das Zwischen in der Hinwendung zum, besser gesagt, im Inter-esse am Anderen. So lässt jegliche Offenheit ihm und ebenso mir selbst gegenüber mich bereits im Dazwischen vorfinden, das von mir und dem Anderen aktiv konstituiert wird. „Aber was motiviert mich zu einer solchen Offenheit?“, fragte ein Teilnehmer. Was ist die aktive, normative Dimension der Begegnung mit Anderen?
In Hinblick auf einen weiteren Aspekt der ethisch-normativen Dimension kann auch gefragt werden, wann wir Abstände in einem Sinn von Abgrenzung und Verschließung zu ‚öffnen‘ hätten, bzw. ob dies überhaupt möglich ist. Offenheit und reine Wahrnehmung (aisthesis) haben immerhin nicht nur positive Seiten, so erinnert Tanja Wischnewski an Gewalt und die damit einhergehende Verletzlichkeit. Dieserart Fragen nach Gewalt, Macht oder Gerechtigkeit führten die Teilnehmenden auf die politische Dimension der Zwischenleiblichkeit, den Raum der Alterität als inhärent politisch. Diese geht als konkrete Begegnung jeder Kultur voraus, und doch können wir im Anderen auch das Fremde erfahren. „Fremdheit kann zu Gewalt umschlagen, manchmal muss es zur Schließung kommen.“ Ist die Trennung zwischen Zugehörigkeit und Fremdheit womöglich unüberbrückbar? Durch das Fremde wird man sich selbst fremd, so wie man dem anderen fremd ist und der Andere einem selbst. Dies ist erneut der schmerzhafte Moment des Auf-sich-selbst-Zurückgeworfen-Seins des Zwischens der Alterität. Doch wie ist mit diesem Schmerz politisch umzugehen? Zunächst ist die Struktur des Fremden nicht identisch mit dem oder den Anderen, wie unter Einbezug Waldenfels’ angemerkt wurde: Das Andere gehe immer schon vom Ich aus, stehe immer in Bezug zu mir. Währenddessen „geht einem das Fremde wirklich schmerzhaft voraus“.
„Ich verstehe nicht alles, aber vielleicht ist das okay. Ich werde nicht alles zu mir in Bezug setzen können. Hier besteht ein Anspruch, Dinge fremd und schmerzhaft sein zu lassen.“ (Vanessa Ossino)
Insbesondere gehe es Sternagel allerdings weniger um das Waldenfels’sche Andere als mehr mit Levinas um die Anderen. Wir stehen mit anderen in Verbindung, „Ich existiere in der Welt zusammen mit Anderen.“ Gegenüber ihnen haben wir – so wie gegenüber uns selbst – Verantwortung, wir sind aufgefordert zu antworten. Aber wie wird unsere Antwort moralisch wertvoll? „Wir agieren und reagieren mit unserer Sprache, unserer Stimme, unserem Gesicht, unserem Körper, unseren Gesten. […] Wie begründet sich unser Sein im Anerkannt-Sein?“, fragt Sternagel im Buch. Was ist gleichsam zurückzuhalten, nicht zu tun, zu verschweigen? Des Weiteren verwies Tanja Wischnewski in ihrer Respondenz auch provokant auf die Ambivalenz der Verantwortung im Sinne eines „sanften Paternalismus“, eines „gewaltvollen Kümmerns“. Entspreche dies nicht mehr einem Nicht-Antworten?
Im Einklang mit der übergeordneten Motivation der Vortrags- und Workshop-Reihe lautet eine grundlegende Frage auch immer, wie Phänomenologie eine praktische sein kann. Wie kommen wir von Beschreibungen der Welt in eine praktische Philosophie? So diskutierten die Teilnehmenden die Grenzen einer klassisch-Husserlschen „Verobjektivierungslogik“. „Mehr Fremdheit statt Verdinglichung“ – es brauche eine responsive Ethik. Könne dies nicht auch eine potentielle Perspektive für den Ethikunterricht sein, um die Rolle der Philosophie und Geisteswissenschaften angesichts aktueller politischer Probleme in den Fokus zu rücken? Und wie ließen sich Erfahrungen wie z.B. die der Klimakrise phänomenologisch umdeuten, da es sich schließlich kaum um eine „Sache selbst“ handeln könne? Ähnliches gelte für Dinge wie Algorithmen in Digitalisierungsprozessen, so ergänzend Sternagel. Womöglich kann hier eine Art praktische Phänomenologie des Medialen wegweisend werden?
Etwas, das natürlich als das Mediale diskutiert werden muss, sind die situativ-leiblichen Ausdrucksmöglichkeiten des Menschen in der Koexistenz mit Anderen. Es ist nicht der Ausdruck eines vorliegenden Denkens, sondern „das Denken gründet in Wahrnehmung und ist nicht von der leiblichen Erfahrung zu trennen.“ So ist die Aisthetik der Existenz zwischen uns der von Sternagel beschrittene Weg zur Ethik der Alterität. Nehme ich – in der Stimme Merleau-Pontys – wahr, dass andere genauso in ihrer durchlebten Existenz berührt werden, berührt es mich und es verbindet mich mit ihnen. Lebensweltliche Begegnungen können dabei auch immer wieder beunruhigen und verunsichern. „Wie sein, wie sich verhalten?“ sind ebenjene ausschlaggebende Momente des Ethischen.
„Ethische Momente entstehen auf diese Weisen zuallererst immer im Ungewissen, in Unwissenheit, in Unfassbarkeit und in Unangreifbarkeit.“ (Jörg Sternagel)
Die Möglichkeit unseres Seins mit Anderen beruht in dieser Unabgeschlossenheit. „Jeder Gebrauch von Sprache ist also ein Einleben in eine sprachliche Koexistenz mit Anderen, die unseren eigenen Versuchen, uns auszudrücken, bereits vorausgehen.“ So eröffnete Vanessa Ossinos Respondenz im Workshop Sprache als ein intensiv diskutiertes Thema: Ebenso wie eine Begegnung mit anderen ist sie Ereignis. Anstatt Festlegung und Ausdruck von Vorfindlichem findet sich das Subjekt in der Unverfügbarkeit der Alterität. Was sei in dieser Hinsicht beispielsweise die Rolle der Sprache in der Entwicklung von geschichtlichen Ereignissen sowie in der Aufarbeitung von Vergangenem? Besteht die Pflicht, die Vergangenheit immer neu in Worte zu fassen, sie immer wieder zu erzählen? „Wie konstituieren Sprache und Interaktion soziale und kulturelle Wirklichkeiten?“, wurde gefragt. Was sei dieses Zwischen als ein soziales Bezugsgewebe in seiner leiblichen und sprachlichen Dimension? Unbestreitbar hat Sprache in einer responsiven Ethik eine wichtige Funktion inne. Sternagels Buch, in seiner Konfrontation mit der Leseerfahrung selbst,
„(…) eröffnet sich der Leserin als eine performative Praxis, die versucht dem Anspruch des Fremden durch den Akt des Schreibens selbst gerecht zu werden.“ (Vanessa Ossino)
Mit der Philosophie des Performativen steht für Sternagels Buch das „Erlebnis eines Geschehens“, eines dynamischen, responsiven Zwischengeschehens oder Zwischenereignisses, im Vordergrund. So hat auch die Diskussion in einem philosophischen Workshop stets solchen Ereignischarakter; der Diskussionsgegenstand selbst kann ein work in progress sein, genauso das eigene Denken beim Versuch, ihn zu erfassen und sich vor Anderen auszudrücken. Es ist nie von vornherein sicher, dass man verstanden wird oder sich selbst dabei versteht. Daher kann die Teilnahme an einem philosophischen Diskurs immer auch überraschen und beunruhigen. Doch ist dies ein wesentlicher Aspekt der Philosophie, nicht ausschließlich im Stillen – in dyadischer Relation zwischen Leser:in und Autor:in gelesen, sondern mit Dritten entfaltet zu werden.
Diese Vortrags- und Workshopreihe soll insbesondere für Studierende eine Gelegenheit bieten, philosophische Arbeit in einer Werkstattform kennen zu lernen und sich auch aktiv daran zu beteiligen. Sie ist als Forum für ein breites Themenfeld gedacht, sodass der Titel zuweilen als „Praktische Philosophie und/oder Phänomenologie“ zu verstehen ist. Es sind ca. ein bis zwei Termine pro Semester geplant.