Am 31.05.2024 fand im Anschluss an die Husserl-Lecture mit der Preisträgerin Prof. Sara Heinämaa an der Freien Universität Berlin ein Workshop mit dem Titel „Topics of Political Phenomenology: Embodiment, Agency and Encroachment“ statt. Veranstaltet wurde der Workshop von der Deutschen Gesellschaft für Phänomenologie, die Vanessa Ossino (Universität zu Köln, Universität Fribourg) und Marlin Mayer (TU Darmstadt) zu einer Respondenz eingeladen haben. In Anknüpfung an die Husserl-Lecture von Prof. Heinämaa mit dem Titel „‚Political‘ Emotions: Hatred, Disgust, Curiosity, Desire“ bot der Workshop die Gelegenheit, mit der Preisträgerin über die Themen der Vorlesung und ihre Schriften zur Kontroverse über klassische phänomenologische Methoden im Verhältnis zur kritischen bzw. politischen Phänomenologie einerseits, und zur Freiheitstheorie und Ethik Simone de Beauvoirs andererseits ins Gespräch zu kommen. Eingeleitet wurde der Workshop von einem Impuls von Vanessa Ossino, in dem sie die zentralen Standpunkte Heinämaas bezüglich des kritischen Potentials der klassischen phänomenologischen Methoden darstellte und kritisch beleuchtete. Zu diesen Methoden gehören nach Heinämaa die transzendentale, eidetische und primordiale Reduktion. Während die transzendentale Reduktion die Funktion erfüllt, notwendige Erfahrungsstrukturen zu enthüllen, bezeichnet die eidetische Reduktion das Verfahren, die allgemeine Gültigkeit der transzendentalen Erfahrungsstrukturen qua Variation individueller Erfahrungen sicherzustellen. Die primordialen Reduktion dient der Unterscheidung solcher konstitutiven Leistungen, die vom individuellen Subjekt verrichtet werden können gegenüber solchen, die der Intersubjektivität zugeschrieben werden müssen. Diese Methoden stellen nach Heinämaa konzeptuelle Ressourcen bereit, um die Vielfalt konkreter Erfahrungen in ihren individuellen sozialen, leiblichen wie historischen Facetten zu beleuchten. Sie ermöglichen uns, die verschiedenen Konzeptualisierungen und auch Idealisierungen von Erfahrungen zu hinterfragen.
Eine kritische Nachfrage von Ossino zielte auf den tatsächlichen Nutzen klassischer (Husserlscher) phänomenologischer Methode für das Verständnis konkreter Erfahrungen in sozialen, historischen Situationen. Darauf erwiderte Heinämaa, dass die klassische Phänomenologie faktische Erfahrungskonstellationen nicht ausblendet, sondern diese unter einem eidetischen Gesichtspunkt betrachtet. Dies bedeute wiederum nicht, dass die eidetische Reduktion einem Essentialismus im Sinne von überzeitlichen Erfahrungsstrukturen verpflichtet sei. Vielmehr seien die eidé, die allgemeinen Erfahrungsstrukturen, als offen und wandelbar zu verstehen. Gerade dadurch könne die Phänomenologie einen Erkenntnisgewinn liefern, indem sie die Mannigfaltigkeit konkreter Erfahrungen nach Invarianzen befragt und so überhaupt einem allgemeinen Verständnis eröffnet.
Die zentrale Diskussion des ersten Abschnitts des Workshops konzentrierte sich jedoch auf den Sinn und die Möglichkeit der primordialen Reduktion. Verstanden als Abstraktion von intersubjektiven, kultürlichen Leistungen und fremder Subjektivitäten sei diese nach Heinämaa unentbehrlich, um den transzendentalkonstitutiven Status einer Minimalform von leiblicher Subjektivität zum Ausweis zu bringen. Noch vor dem Leib als intersubjektivem Ausdrucksmedium liege der sinnliche Leib als sich selbst empfindender im Wechselspiel von Innenleib und Außenleib. Mit der Analyse leiblicher Subjektivität können auch bestimmte Ausprägungen des leiblichen Selbstverhältnisses wie in der Anorexie oder Transsexualität phänomenologisch erschlossen werden. Es blieb jedoch eine kontroverse Frage, ob zur Aufdeckung leiblicher Selbstbezüglichkeit und minimaler Subjektivität eine Abstraktion von Intersubjektivität nötig und überhaupt möglich sei. Zur Befriedung dieser Kontroverse bietet es sich an, die Differenzen zwischen klassischer und kritischer Phänomenologie aus den jeweiligen divergierenden Forschungsinteressen verständlich zu machen. Trotz des Methodenstreits ist wohl das Interesse an der Erforschung konkreter Subjektivität und ihrer Strukturformen ein verbindendes Element.
Den zweiten Abschnitt des Workshops zu Freiheitsphilosophie und Ethik Simone de Beauvoirs leitete Marlin Mayer mit einem Impulsvortrag ein. Eine rege Debatte entbrannte über die folgende kritische Nachfrage von Mayer: Können wir die Freiheit der Anderen wirklich wollen – wie de Beauvoir es für ethisch geboten hält – oder ist es nicht eher so, dass sofern man eine Husserlsche Differenz von Wollen und Wünschen berücksichtigt, wir uns die Freiheit der anderen wünschen sollten statt sie zu wollen? Würden wir nicht andernfalls das Wollen der anderen wollen, sodass dies weniger Freiheit für die anderen mit sich brächte anstelle davon, sich die Freiheit der anderen zu wünschen? Hierauf entgegnete Heinämaa, dass mit einem Wunsch nicht die ethische Verpflichtung einhergeht, diesen auch in die Tat umzusetzen. Es müsse der Wille zum Handeln selbst in die Pflicht genommen werden, die Freiheit aller Menschen zu berücksichtigen und zu befördern. Wie Heinämaa betont, ist der menschliche Wille nach de Beauvoir nicht solitär zu verstehen, sondern unauflöslich mit dem Willen aller anderen Menschen und den materialen Bedingungen weltlichen Handelns verflochten. Daher genüge es auch nicht, die Freiheit der Anderen lediglich abstrakt zu wollen. Vielmehr muss die Freiheit des konkreten Anderen gewollt werden, so wie sie sich in bestimmten Absichten manifestiert. Dies beinhalte auch den Protest gegen jegliche Formen der Unterdrückung, sodass Heinämaa vor allem das kritische, revolutionäre Potential der Philosophie de Beauvoirs hervorhob, das auch heute noch aktuell sei.
Abschließend kam Mayer auf den Vortrag der Preisträgerin zurück. Auf die Frage hin, wie Hassrede von einer legitimen Meinungsäußerung abzugrenzen sei, erwiderte Heinämaa, dass in der Hassrede die geäußerte Meinung nicht mit der gebotenen Ernsthaftigkeit vertreten werde. Damit gemeint ist, dass die Hassrede sich dem Geben und Nehmen von Gründen entzieht und widersetzt. Die jeweils geäußerte Meinung werde daher nicht zum Zwecke des Austauschs von Argumenten platziert, sondern um Chaos und Unfrieden zu stiften. Dies bot Anlass dazu, nach dem Subjekt der Hassrede zu fragen, indem Mayer kritisch nachfragte, inwiefern sich die Analyse dessen ändert, sofern nicht ein leibliches Subjekt, sondern Bots und Algorithmen Hassrede praktizieren.
Wenngleich die Teilnehmenden des Workshops und die Preisträgerin leidenschaftlich stritten und viele Kontroversen ungeklärt blieben, zeugt dies doch von der Lebendigkeit der phänomenologischen Forschungslandschaft. Es zeigt, dass die junge Generation phänomenologischer Forscherinnen und Forscher den Anschluss an die langjährige Forschungsarbeit der älteren Generation sucht, aber auch, dass sie bereit ist, neue und eigene Wege zu gehen.