„Eine menschliche Gemeinschaft ist wesentlich durch das geprägt, was sie als Gemeinschaft will und meint“, so beschreibt Eugen Fink das Wesen der Gemeinschaft in einer Vorlesung von 1966. Der phänomenologische Einwurf ist damit ausgewiesen: Wenn sich Gemeinschaft primär als Sinnentwurf der Gemeinschaftlichkeit konstituiert und somit über eine reine Tatsache hinausreicht, ist eine phänomenologische Analyse angebracht. Es ist nicht schwer, einen phänomenologischen Zugriff auf die Begrifflichkeit der Gemeinschaft zu finden, denn bereits Husserl spricht von Wir-Gemeinschaften, die ihre jeweilige Kultur und Tradition haben. Dabei durchleuchtet er Gemeinschaft und Sozialität durch Begriffe wie Einfühlung und Kommunikation. In den Kaizo-Artikeln spricht er dazu von einem „Gemeinschaftsbewußtsein“ sowie von einer „Personalität höherer Ordnung“, die sich im Sinne der Gemeinschaft als solcher, in ihrem Streben und Wollen realisiert. Husserls intersubjektive Überlegungen gewinnen durch die Begriffe der Gemeinschaft und Sozialität entsprechend auch an normativer und ethischer Konkretion. So geht es ihm in den Kaizo-Artikeln etwa um die Erneuerung einer vernünftigen Gemeinschaft im Ausgang einer strengen Wissenschaft, die es ermöglicht, das Wesen einer „vernünftigen Humanität“ zu bestimmen. Eine Erneuerung, die angesichts einer leidvollen Gegenwart unausweichlich und angebracht erschien. Ihm geht es folglich insbesondere auch um die Verwirklichung „echter Werte“.
Doch was kann der hier beschworene Wert-Begriff angesichts seiner realpolitischen Enttäuschungen heute noch bedeuten? Kritisch ermahnt uns Merleau-Ponty in Humanismus und Terror, dass eine Gesellschaft nicht der „Tempel jener Wert-Idole [ist], die auf dem Giebel ihrer Monumente oder in ihren Verfassungstexten stehen“. Vielmehr ist eine Gemeinschaft gerade „das wert, was in ihr die Beziehungen des Menschen zum Menschen wert sind“.
Die phänomenologische Denktradition beschäftigt sich bereits seit ihren Anfängen mit dem „Bezugsgewebe zwischenmenschlicher Angelegenheiten“, um es in Arendts Worten zu benennen. Hier werden ethische, politische, sozialontologische und wertlogische Fragestellungen aufgerufen, die aus unterschiedlichen Fluchtlinien beleuchtet wurden und weiterhin werden. Die erste Edition des Journals phainesthai. Neue phänomenologische Blätter möchte sich den Konzepten der Gemeinschaft und des sozialen Lebens im Angesicht der reichhaltigen Konzeptgeschichte innerhalb der phänomenologischen Denktradition widmen und sie gleichzeitig aktuellen Forschungsimpulsen und Lebensumständen hin öffnen. Dabei sollen die Begriffe nicht nur affirmativ beschrieben, sondern auch kritisch hinterfragt werden. Gemeinschaft ist grundlegend auch ein konfliktuelles Miteinandersein.
Einreichungen können sich etwa mit folgenden Fragen beschäftigen:
- Auf welche Weise beschreiben und durchleuchten unterschiedliche Phänomenolog*innen die Phänomene der Gemeinschaft und des sozialen Lebens? Welche methodischen Herangehensweisen scheinen den Autor*innen dabei am vernünftigsten?
- Kann Gemeinschaft in Analogie zum Subjekt gedacht werden oder geht sie ihren einzelnen Mitgliedern vielmehr voraus?
-Welche Rolle nehmen Sprachlichkeit, Affektivität und Normativität in Gemeinschaftlichkeit und Sozialität ein? Unterscheiden sich die Begriffe der Gemeinschaft, Gesellschaft und des sozialen Lebens wesentlich oder können sie synonym verwendet werden?
-Gibt es eine verbindliche Form der Gemeinschaft und kann es so etwas wie das Wesen einer Gemeinschaft geben?
-Umfasst das Forschungsfeld der Intersubjektivität bereits dasjenige der Sozialität und des sozialen Lebens oder gehen Letztere über Ersteres hinaus?
-Inwiefern beeinflussen Geschichte und Narration die Selbstdeutung der menschlichen Gemeinschaft?
-Hat der Mensch Gemeinschaft nur mit seinesgleichen oder ebenfalls mit Tieren, seiner Umwelt und vergangenen sowie kommenden Generationen? In welchem Verhältnis stehen Gemeinschaft und Sozialität zu ethischen und politischen Fragestellungen? Geht ein Denken der Gemeinschaft ethischen und politischen Überlegungen notwendigerweise voraus, oder bilden Ethik und Politik den wesentlichen Rahmen für gemeinschaftstheoretische Reflexionen?
Wir möchten ausdrücklich Nachwuchsforscher*innen – insbesondere auch Masterstudierende – dazu einladen, einen Beitrag einzureichen. Einreichungen können bis zum 31.03.2025 an die folgende Emailadresse gesendet werden: phainesthai@ophen.org
Zeitschrift | Band
phainesthai
Gemeinschaft und soziales Leben
Band 1
Official Call for Paper:https://et-al.ophen.org/pub-267269/
Deadline: Montag 31 März 2025