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Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1967

M. Rainer Lepsius

pp. 25-70

Abstrakt

Die Entwicklung der Soziologie in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg kann unter verschiedenen Perspektiven betrachtet werden. Wissenschaftsgeschichtlich läßt sich die rasche Institutionalisierung der Soziologie im tertiären Bildungswesen am einfachsten feststellen. Theoriegeschichtlich ist die Entwicklung weit komplizierter. Selektive Übertragungen von Positionen aus den zwanziger Jahren mischen sich mit der selektiven Rezeption der internationalen Entwicklung, ohne daß sich eine spezifisch deutsche Wissenschaftsgestalt herausgebildet hätte. Aus der "Deutschen Soziologie", wie sie als eigene Prägung noch in den zwanziger Jahren international wahrgenommen wurde, ist eine Soziologie in Deutschland geworden, die sich im wesentlichen der internationalen Entwicklung einfügt. Geistesgeschichtlich verharrt die Soziologie in der Ambivalenz zwischen Sinndeutung der menschlichen Existenz und empirischer Teilanalyse sozialer Strukturbedingungen der Gesellschaft. Zeitgeschichtlich gewann die soziologisierte Kulturkritik weit größere Resonanz als die empirisch-analytische Forschung. Innerhalb der Soziologie war der Gegensatz zwischen den Vertretern einer empirisch fundierten 'soziologischen Theorie" und einer hermeneutisch explorativen "Theorie der Gesellschaft" bedeutsam für das Selbstverständnis, er wirkte in den späten sechziger Jahren polarisierend. Wirkungsgeschichtlich ist die Soziologie für die Formation der Gesellschaft der Bundesrepublik in den vierziger und frühen fünfziger Jahren ohne Einfluß, und auch in der Reformperiode der späten sechziger Jahre ist die soziologisierte Kulturkritik weit erheblicher als soziologische Analyse oder gar Prognose. Die Binnenorientierung der Soziologie auf Phänomene der deutschen Gesellschaft war dominierend, das Problemverständnis insofern provinziell deutsch mit geringer Beachtung der Möglichkeiten interkulturellen Vergleichs, und doch folgte sie vielfach nur amerikanischen Aufmerksamkeitswellen: von der These vom Ende der Ideologien bis zur Problematik der "Randgruppen" und der Partizipation. Vielleicht spielten marxistische und neomarxistische Ansätze in der Bundesrepublik eine größere Rolle, doch im ganzen ist auch das zeitkritische Bewußtsein der deutschen Soziologie stärker internationalisiert als es vermutet werden könnte.

Publication details

Published in:

Lüschen Günther (1979) Deutsche Soziologie seit 1945: Entwicklungsrichtungen und Praxisbezug. Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Seiten: 25-70

DOI: 10.1007/978-3-322-83690-8_2

Referenz:

Lepsius M. Rainer (1979) „Die Entwicklung der Soziologie nach dem Zweiten Weltkrieg 1945 bis 1967“, In: G. Lüschen (Hrsg.), Deutsche Soziologie seit 1945, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, 25–70.