Essay

Antrittsvorlesung. Zur Zukunft der akademischen Philospophie

Sebastian Luft

20th March 2024

Wenn ich, wie offenkundig ist, mich dazu entschieden habe, zur Zukunft der akademischen Philosophie Überlegungen anzustellen (nicht DIE Zukunft vorherzusagen), dann komme ich nicht umhin, den Blick zu weiten und auch die Geisteswissenschaften im Ganzen mit einzubeziehen. Wenn man an den allgemeinen Zustand der Geisteswissenschaften denkt, so würden viele sicher zustimmen, wenn man sagt, sie seien in einem eher beklagenswerten Zustand. Es gibt weniger Studierende in den klassischen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, es gibt noch weniger Stellen für den wissenschaftlichen Nachwuchs, so dass der Begriff „Prekariat“ für denselben inzwischen ein geläufiger Begriff ist.

Die „Krise der Geisteswissenschaften“ ist also allgegenwärtig, was sich auch daran festmachen lässt, dass immer weniger Menschen mit dem Begriff überhaupt etwas anfangen können. Ich verdeutliche das mit einem Gespräch, was ich vor kurzem mit einer Tierärztin hatte. Als sie mir erklären wollte, woran unsere Katze krankt, sagte sie beiläufig zu mir, weil sie meinen akademischen Titel in ihren Akten sah, „Sie sind doch Wissenschaftler, Sie verstehen sicher, was ich meine.“ Darauf ich: „Ich bin Geisteswissenschaftler, es tut mir leid, Sie müssen es mir erklären.“ Darauf sie: „Was ist denn das, Geisteswissenschaft?“ Ich war von der Frage so baff, dass ich keine Antwort hatte. Man kann also nicht einmal mehr mit Selbstverständlichkeit davon ausgehen, dass gebildete Menschen heutzutage wissen, was das ist, eine Geisteswissenschaft.

Bei allem Gerede über die Krise der Geisteswissenschaften will ich mich allerdings nicht in die Reihe derjenigen einreihen, die vom „Untergang“ oder „Niedergang“ derselben reden; denn wenn ich von der Zukunft spezifisch meiner Disziplin, der akademischen Philosophie rede, muss ich bekennen, dass ich nicht an den Untergang der Philosophie glaube. Dass es die Philosophie heute selbst an einem Ort wie einer Universität nicht leicht hat, das gestehe ich gern zu; aber ein geschichtlicher Blick lässt schnell erkennen, dass die Philosophie – die Wissenschaft, die eigentlich keinen extrinsischen Zweck verfolgt – eigentlich immer unter Beschuss stand. Und was Krisen betrifft, so waren diese eigentlich immer die fruchtbarste Zeiten für die Philosophie, Zeiten also, in denen das Selbstverständliche ins Rutschen kommt und Vorschläge von Philosophinnen und Philosophen sich als nützlicher und weitblickender als Vorschläge manch anderer erwiesen haben. Warum ist das so?

Daher zunächst eine Meditation darüber, was die Philosophie als Disziplin von ihrer Herkunft her eigentümlich und eigentlich nur mit einer Disziplin vergleichbar macht, und das ist die Mathematik. Denn von alters her gilt es als ausgemacht, dass die Mathematik es mit einer besonderen Art von Wissen zu tun hat, nämlich einem solchen, das uns über unsere menschliche Endlichkeit hinaus mit etwas ÜberMenschlichem in Verbindung bringt. So sagt etwa Alicia, das mathematische Genie in Cormack McCarthys Roman „The Passenger“: „Intelligence is numbers. It’s not words. Words are things we’ve made up. Mathematics is not.“ (Stella Maris, 19) Die Vorstellung ist hier also, dass Worte etwas Menschengemachtes sind, Mathematik aber nicht reduzierbar ist auf den menschlichen Geist. Der Satz des Pythagoras mag zwar von der historischen Gestalt dieses Namens entdeckt worden sein, gilt aber, auch wenn Pythagoras oder welche andere Mathematikerin nie existiert hätten, und überhaupt unabhängig von der Existenz unserer Spezies.

In diesem Sinne definiert Platon, für den die Mathematik stets das ideale Wissen darstellt, die Philosophie so, dass sie uns mit den Ideen von Dingen in Kontakt bringt. Während wir im Alltag über schöne, tapfere, wahre Dinge reden, handelt die Philosophie vom Wesen des Schönen, Tapferen, Wahren, also von Ideen, die existieren, mögen denkende Menschen existieren oder nicht. Die Ideen, so Platons Begriff, sind also vergleichbar mit Zahlen. Sie zu denken, bringt uns in Kontakt mit etwas Über-Menschlichem und lässt uns über unsere endliche Existenz hinauskommen, zumindest für den Moment.


Aus diesem Grund also ist die Philosophie nicht nur eine besondere Disziplin, auf einer Stufe mit der Mathematik. Sie hat auch einen besonderen Platz an dem Ort des Wissens, nämlich der Universität, wie man auf Englisch so schön sagt, einem Institute of Higher Learning. Die Philosophie wäre dann an diesem Ort Highest Learning.

Nun weist bereits Aristoteles in seiner Rekonstruktion der Entstehung der Philosophie darauf hin, dass es einer besonderen gesellschaftlichen Situation bedurfte, damit so etwas wie Mathematik und Philosophie überhaupt entstehen konnten, in seiner historischen Rückschau nämlich eine Gesellschaft wie die ägyptische, die es sich vom materialen Wohlstand her leisten konnte, eine besondere Gruppe von Menschen damit zu beauftragen, Mathematik und damit auch Philosophie zu betreiben, Disziplinen also, die, wie er es ausdrückt, deshalb die höchsten Wissenschaften sind, weil sie gerade gar keinen Zweck erfüllen. Man muss Aristoteles in seiner Definition von Philosophie nicht zustimmen, sondern nur um den Punkt geht es mir, dass die Etablierung der Philosophie als eigener Disziplin mit herausragender Bedeutung einem Bedürfnis entsprang, diesem besonderen Wissen sowie den Menschen, die nach ihm streben, einen erhobenen Rang einzuräumen, auch und gerade wenn die Normalsterblichen eigentlich nicht richtig verstehen, was Philosophinnen und Philosophen genau machen. Denn es herrschte doch die implizite Überzeugung, dass die, die sich der Philosophie widmen, etwas ganz besonders Wichtiges tun, und dass man daher auf jeden Fall diese Tätigkeit und die, die sie betreiben, erhalten müsse, auch wenn der normale Steuerzahler nicht weiß, wofür das Steuergeld genau aufgewendet wird.

Wenn nun die akademische Philosophie unter Beschuss steht, dann scheint – unter anderem – genau diese implizite Überzeugung, die bisher ungefragt galt, langsam zu bröckeln. Dieses Zerbröckeln begann aber genau genommen schon vor ungefähr 150 Jahren, als die empirischen Naturwissenschaften ihren Siegeszug antraten, der bis heute ungebremst fortschreitet und gerade durch die Entwicklung neuer Disziplinen – man denke nur an die Kognitionswissenschaften – so etwas wie die Philosophie immer überflüssiger zu machen scheinen. Eine eigenständige Tätigkeit für die Philosophie scheint immer schwerer vorstellbar. Und wenn sich gar manche Philosophen ihre Disziplin so vorstellen, dass sie in erster Linie und letztlich nur noch die bestallte Verwalterin der Tradition sein sollte, ist ihre Gegenwartsbedeutung vollends überflüssig geworden. Philosophie ist ein Luxusgut, wovon keiner so recht weiß, wozu sie gut ist. Man unterwirft sie gerade damit einer Frage, die zu stellen früher als geradezu obszön galt. Nun, da diese Frage gestellt werden darf, kann auch erst die Frage, wie es mit der Zukunft der Philosophie an Universitäten steht, in den Blick geraten.

Wenn man die Tendenz sieht, die in Diskussionen um Curricula und Studiengänge zu beobachten ist, dann kann man eine vielleicht nicht allzu gewagte Prophezeiung anstellen, dass in vielleicht fünfzig Jahre es so etwas wie Philosophische Institute als eigenständige Arbeits- und Forschungsbereiche nicht mehr geben wird oder dass es geschehen wird wie an vielen Universitäten etwa in den USA, wo ein paar Quoten- Philosophinnen und -Philosophen in allgemeinen Humanities-Departments existieren bzw., besser gesagt, geduldet werden. Für manche ist das der Untergang des Abendlandes; für andere ein Ende der Duldung der Philosophie von der Antike bis heute, oder vielleicht besser, einer Duldung eines Verständnisses von Philosophie, die – um zu Platon zurück zu gehen – diese Disziplin als eine besondere ansah, inkommensurabel mit allen anderen und vergleichbar nur mit der Mathematik als Erlangung einer ganz besonderen und einzigartigen Form von Wissen. In diesem Sinne wäre die Vertreibung der Philosophie aus der exaltierten Stellung, die sie über Jahrhunderte besaß, eine Befreiung für die Philosophie selbst, auch wenn sie ihre Position erst wieder suchen müsste, mit dem Ergebnis vielleicht, dass sie nie wieder das Privileg eines besonderen Rangs erlangen würde. Aber vielleicht wäre das auch eine Chance?

Gegenüber dem Wandel der Struktur der Bildung aber kann man ebenso darauf hinweisen, dass der menschliche Geist sich im Wesentlichen nicht ändert und junge Menschen immer wieder aufs Neue die sogenannten „großen Fragen“ zum Sinn des Lebens, der Bedeutung des Kosmos und unserer Stellung in der Welt stellen werden. Dies kann uns Hoffnung geben; denn hierin könnte man eine Konstante sehen, die die curricularen Diskussionen und zur Stellung der Philosophie in der akademischen Landschaft überdauern wird. In diesem Sinne wagt Richard Rorty zum Ende seines epochalen Philosophy and the Mirror of Nature von 1979 – einem Buch, worin er sich von der Philosophie nach platonischem Vorbild verabschiedet – folgende Prophezeiung der Zukunft der westlichen Philosophie: „Whichever happens, however, there is no danger of philosophy’s ‘coming to an end’. Religion did not come to an end in the Enlightenment, nor painting in Impressionism. Even if the period from Plato to Nietzsche is encapsulated and ‘distanced’ in the way Heidegger suggests, and even if 20th century philosophy comes to seem a stage of awkward transitional backing and filling ..., there will be something called ‘philosophy’ on the other side of the transition.” (PMN, 394)

Autoren wie Platon, Aristoteles und Kant, so Rorty weiter, würden weiterhin gelesen, auch wenn sie nicht notwendiger Weise in Philosophie-Seminaren gelesen würden und auch wenn Leserinnen nicht die Hoffnung hätten, durch ihre Lektüre näher an ewigen Wahrheiten heran zu kommen. In Rortys Vorhersage drückt hier also eine gewisse „Wurstigkeit“ aus, dass, was immer geschieht, nichts sei, worüber man sich Gedanken machen müsse, denn „Philosophie“, was immer man unter dem Begriff verstünde, werde weitergehen, so oder so. Nur, dass es vielleicht an Universitäten kein Fach dieses Namens geben werde, oder wenn doch, dann mit Inhalten, die den jetzigen nur schwer vergleichbar wären.

In der Tat ist es ja nicht so, dass Philosophinnen die Platonische Auffassung unwidersprochen geblieben wäre. Es ist das Schicksal der Philosophie als Disziplin gewesen, dass ihr spätestens in dem Moment, als sie durch die empirischen Wissenschaften ins Kreuzfeuer geriet, Philosophen selbst Vorschläge gemacht haben, was Philosophie eigentlich tun sollte, statt nach dem Ewigen zu streben. Philosophie solle vielmehr eine Kritik ihres Zeitalters, oder Kritik der gesellschaftlichen Umstände, oder eine Reflexion gerade über die Endlichkeit des Menschen in seinem geschichtlichen In-der-Welt-Sein sein. Hiermit verweise ich auf Vorschläge etwa von Nietzsches Kulturkritik, Marx’ Gesellschaftskritik oder Tendenzen des Existenzialismus, der Phänomenologie und der Hermeneutik im 20. Jahrhundert. Dieses alles waren Versuche, die starke Trennung von Philosophie und Zeitkritik einerseits und zwischen Philosophie und anderen Wissenschaften andererseits zu unterwandern (oder zu überwinden). Es waren dies auch gleichzeitig Versuche, sich der zunehmenden Obsoleszenz der Philosophie entgegen zu stemmen.

Diese Tendenzen haben Schule gemacht und vor allem in meiner eigenen Erfahrung als Student und dann Professor – also in den letzten 30 Jahren – zu erheblichen Umwälzungen der Disziplin geführt, die manche Kolleg/innen vor Freude jauchzen lassen, andere hingegen in tiefe Verzweiflung stürzen. Ich meine nämlich die Bewegung hin zu Themen, die früher gerade als explizit nicht-philosophische angesehen worden und eher zu den Gesellschaftswissenschaften zu zählen gewesen wären. Hierzu zähle ich Themen wie Feminismus, Gendertheorien, Kolonialismus und neuerdings das, was im weitesten Sinne als Untersuchungen zur Identität zu nennen wäre, die Identität gefasst etwa als sexuelle und im weitesten Sinne kulturelle und sub-kulturelle. So gibt es heute eigene Lehrstühle für Philosophie of Sex and Gender, Race Studies, Queer Studies, Africana Studies, mit ihren eigenen Sub-Disziplinen, wie etwa – um bei letzterem zu bleiben – Afro-Pessimism. Der Ausdifferenzierung scheinen keine Grenzen gesetzt zu sein.

Für manche Fachkolleg/innen ist dies die Bankrotterklärung der Philosophie als eigenständiger Disziplin, für andere die endgültige Befreiung von den engen Grenzen des Platonischen Philosophieverständnisses. In jedem Falle versehen Vertreterinnen dieser neueren Disziplinen ihr Amt in Philosophie-Instituten, und somit – und ohne eine Beurteilung abzugeben – ist dies eine Bewegung hin zu dem, was Rorty prophezeite, dass es weiterhin Philosophie geben werde, aber dass das Verständnis dessen, was sie eigentlich bedeute (solle), sich auf eine Weise wandelt, dass sie mit ihrem ursprünglichen Verständnis nichts mehr zu tun hat, genau in der Weise, dass die Kunst mit der Heraufkunft des Impressionismus nicht an ein Ende gekommen ist. Damit wären alle Konturen bis zur Unkenntlichkeit verschwommen.

Es ist schwer zu sagen, ob und wie diese Tendenz weitergehen wird, denn die Ausdifferenzierung in immer weitere Sub-Disziplinen scheint einerseits unbegrenzt; die Lust hierzu aber andererseits, wenn man sich etwa die Cutting Edge der neuesten Entwicklungen ansieht, eher nachlassend. Es scheint absehbar, dass auch diese Entwicklung an ein Ende zu kommen scheint, nicht weil Menschen kein Interesse an diesen Themen hätten, sondern weil die Forscherinnen und Forscher, die sich diesen Themen widmen, sich in explizit nicht-philosophischen Disziplinen eigentlich besser aufgehoben fühlen. Wie wird es also weitergehen? Wenn die neueste Tendenz also auch nicht der Weisheit letzter Schluss ist, sondern auch nichts anderes als die neueste Sau, die durchs Dorf getrieben wird? Können wir, als professionelle Verwalter dieser Disziplin, es uns überhaupt leisten, eine Einstellung zu kultivieren, die der gleicht, die ich eben „Wurstigkeit“ genannt habe, „Jemenfoutiste“, wie Rorty sagt? Obliegt es uns, hier Vorgaben zu machen, wie es weiter zu gehen habe? Oder ist die Idee, dass wir Prophezeiungen überhaupt machen können, eine arrogante Überheblichkeit?

Nun sagte ich zu Anfang, dass ich nicht über die Zukunft der akademischen Philosophie sprechen werde, sondern nur zu ihr einige Bemerkungen machen möchte. Wie gewisse Entwicklungen innerhalb der universitären Landschaft, schaut man sich die jüngere Geschichte an, kurz- und mittelfristig weiterlaufen werden, scheint mir wenig kontrovers. Eher gibt es einen Überbietungswettbewerb unter Universitäten landes-und weltweit, immer neuesten Trends hinterherzujagen, inter-, transdisziplinär, international, interkulturell, inter- und trans- im weitesten Sinne, und in einem Land wie dem unseren immer mit neidischem Blick auf den großen Bruder in Übersee. Das heißt für die Philosophie in the short run: Sie als autonomes Fach wird, zusammen mit anderen Geisteswissenschaften, weiter an Rang innerhalb der akademischen Landschaft abnehmen, was nicht heißt, dass eine gebildete Öffentlichkeit, wie man sie in den meisten westlichen Ländern kennt, weiterhin brennend an philosophischen Themen interessiert sein wird, auch wenn dieser öffentliche Diskurs mit zum Teil fragwürdigen Gestalten bei Laune gehalten wird. Ob es langfristig, in the long run überhaupt Fächer, Institute oder Departments exklusiv der Philosophie gewidmet geben wird, ist meines Erachtens ebenso wenig sicher. Man kann darüber verzweifeln oder auch Vertrauen in die Menschheit haben, dass sie wichtige Fragen immer aufs Neue stellen wird und ihre Antworten auch ohne den – um es negativ zu formulieren – Ballast der historischen Tradition, die etwa ich hier lehre, finden wird.

Wäre eine Gesellschaft oder eine Universität ohne Philosophie überhaupt vorstellbar? Um ein paar historische Ereignisse zu nennen, die radikale Veränderungen ins Gedächtnis rufen sollen: Vor 150 Jahren wäre es genauso unvorstellbar gewesen, Frauen den Zugang zu Universitäten zu gewähren, wie 100 Jahre später die Idee, dass es zu Gender oder Sexuality oder Queer Studies eigene Fachbereiche geben würde, die Teil einer Kulturwissenschaftlichen und nicht Naturwissenschaftlichen Fakultät sein würden. Dass sich die disziplinären Grenzen verschieben und die Fragen, welche Disziplinen überhaupt an eine Universität gehören, immer neu gestellt werden, ist also nichts Neues, und sogar im Sinne des wissenschaftlichen Fortschritts – oder sagen wir vielleicht besser: der wissenschaftlichen Veränderungen – sinnvoll und sogar gesund. Im Zuge dieser Entwicklungslogik ist freilich das disziplinäre Verschwinden des Fachs Philosophie durchaus möglich, wobei eher dem Namen nach als der Sache, denn das, was bisher Fachphilosophinnen so treiben, würde dann in andere Disziplinen diffundieren und dort in welchen Verwässerungen oder Vermischungen auch immer weiterleben. Dies wäre also eine gewisse Faktizität und zu betrauern wirklich nur von denen, die so konservativ sind, dass sie ihrer Sache so sicher sind, dass sie solche Verschiebungen nie auch nur erwägen würden. Aber wer sich nicht bewegt, der wird vom Fortschritt zurück gelassen.

Aber ich komme – zum Schluss – nochmals auf einen Punkt zurück, den ich vorhin eher en passant berührt und gewissermaßen für selbstverständlich richtig dargestellt habe, nämlich die anthropologische Konstante, dass Menschen sich immer und überall die großen Fragen nach dem Warum, Wozu und Wie stellen werden. Ich glaube grundsätzlich, dass diese Konstante zutrifft. Aber es ist durchaus nicht ausgemacht, dass diese Fragen immer schon und auf alle Ewigkeit auf die gleiche Weise gestellt werden. Und was sogenannte große Fragen betrifft, ist es ja nicht so, dass es einen festen Bestand von ihnen gibt, der einmal kanonisch festgelegt worden wäre und den man gewissermaßen „abzuarbeiten“ hätte. Ich behaupte vielmehr: Was „große Fragen“ sind, ist von jeder neuen Generation erneut auszuhandeln; eine blinde Übernahme käme einer Verkrustung gleich und würde die wohl einzige Maxime verletzen, die für Kant eine aufgeklärte Haltung ausmacht, nämlich die, selbst zu denken und sich seines eigenen Verstandes zu bedienen.

Das hieße dann: Genauso wie manche Fragen in Vergessenheit geraten, kommen auch neue hinzu. Gerade angesichts der ökologischen Krise ist es durchaus plausibel zu sagen, dass die neue Generation Fragen stellt, die früher undenkbar waren und wirklich neu sind in der Geschichte der Menschheit. Ist es angesichts dieser allgemein gefühlten Krisen und Katastrophensituation wirklich zielführend, Platon zu lesen? Ist selbst Kant nicht von uns zu weit weg? Oder scheint eine solche pädagogische oder curriculare Vorgabe, weiterhin „die Klassiker“ lesen zu müssen, nicht eher als ein faktenblinder Zynismus und ein unfrei machendes Prokrustesbett?

Und doch, stimme ich Rorty zu, wird es die Philosophie immer geben, in welcher institutionellen Form und unter welchem Namen auch immer, sofern wir hiermit das Fragen nach den großen Fragen meinen. Aber welches die großen Fragen der Zukunft sein werden, vermögen wir Heutigen nicht zu antizipieren, ebenso wenig, welches die Autorinnen und Autoren sein werden, die als Anleitung zur Antwort gelesen werden, noch weniger, ob die Menschen der Zukunft die Zeit, Geduld und Aufmerksamkeitsspanne haben werden, dicke Bücher der Vergangenheit zu lesen und sich auf ihre Problemstellungen und Lösungsvorschläge einzulassen, oder nicht vielmehr andere Medien suchen oder erfinden werden, sich mit diesen Themen auseinanderzusetzen und sie anderen mitzuteilen. Fest steht, was die Zukunft betrifft, für mich daher nur wenig, allerdings doch ein paar Dinge, die ich am Schluss thesenartig formuliere:

Der Traum der Philosophie seit Platon, der Endlichkeit zu entfliehen und am endlosen und überzeitlichen Gespräch über zeitliche und räumliche Grenzen hinweg teilzunehmen, ist ein Traum, der ausgeträumt ist und den wir getrost der Vergangenheit überlassen können ohne Verlust dessen, was Philosophie ist und sein kann. Platon zu lesen, ist hingegen immer ein Gewinn und v.a. ein Genuss, und warum sollte dies nicht auch ein Kriterium sein?


Wie das, was wir heute Philosophie nennen, weitergeführt werden wird, welche Autorinnen und Autoren hierfür herangezogen werden, heutige wie vergangene, vermag keiner zu sagen, auch nicht, ob es hierfür in der Zukunft eigene akademische Nischen an einem Ort wie diesem geben wird.

Man mag darüber in ein Lamento über den fortschreitenden Untergang des Abendlandes ausbrechen oder einen gewissen Pragmatismus an den Tag legen, beide Haltungen sind möglich, führen aber an der Tatsache vorbei, dass die Zukunft nicht in unserer Macht liegt und daher alle Versuche, Philosophie wie wir sie kennen, zu bewahren, von höchst begrenzter Wirkung sein werden. Das sollte aber nicht den, der es für sinnvoll hält, davon abhalten, sein oder ihr Möglichstes zu tun, um das Vergessen der Philosophie abzuwenden. Denn was letztlich zählt, ist nicht der nichtmessbare Erfolg in einer unvorhersehbaren Zukunft, sondern die Befriedigung, die jemand aus diesem Versuch zieht, zur Bewahrung der Philosophie beigetragen zu haben, und dies am Erfolg bei den Studierenden abliest, wenn man in der glücklichen Lage ist, bei ihnen ein Feuer zu entzünden.

Meine Hoffnung bzw. Gewissheit ist eher die, dass das, was wir heute Philosophie nennen, in einer uns vielleicht gänzlich unbekannten Form weiterleben wird und Menschen inspirieren wird, große Fragen zu stellen, den Status quo in Frage zu stellen und Vorschläge zu machen, wie Dinge besser gemacht werden können, wozu auch zählt, den Fragekanon immer erneut zu überprüfen und manche Fragen auszusortieren und neue hinzuzufügen.

Wenn wir Heutigen, die wir das Schicksal haben, die Philosophie zu lieben, zu dieser Einsicht kommen können, dass unser Einfluss begrenzt und unsere Wirkung ungewiss ist, haben wir vielleicht ein bisschen von dem wieder gewonnen, was in der Antike tranquilitas animi genannt wurde, die Seelenruhe als eine Art Gelassenheit, die angesichts der Katastrophen der heutigen Zeit fast schon archaisch und manchen verantwortungslos scheinen. Vielleicht ist ein solcher Aufruf, in den Stürmen der Zeit eine andächtige und nüchterne Haltung der Reflexion zu kultivieren und den eigenen


Verstand zu benutzen, das einzig Zeitlose, was von der abendländischen Philosophie übrig bleiben wird. Es könnte der akademischen Philosophie weitaus Schlimmeres widerfahren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.