Am 15. und 16. Juni 2017 fand die Tagung “Phenomenology and Ecology” an der KU Leuven statt. Die Tagung wurde zu Ehren von Prof. Ullrich Melle organisiert, der am darauffolgenden Tag emeritiert wurde.
Innerhalb der heutigen Phänomenologie ist Ullrich Melle als ein äußerst kompetenter und unermüdlicher Husserl-Forscher bekannt – Herausgeber oder Mitherausgeber von mehreren Bänden der Husserliana-Reihe, in den letzten zehn Jahren Direktor des Husserl Archivs in Leuven, Autor einer sehr wichtigen Monographie über die Phänomenologie der Wahrnehmung und von mehreren Aufsätzen, die sich mit verschiedenen Themen der husserlschen Phänomenologie auseinandersetzen (von der Eidetik und der Bedeutungslehre bis zur Ethik). Weniger bekannt bei den Phänomenolog*innen mag seine Expertise im Bereich der Ökophilosophie sein, mit der sich Ullrich Melle ebenso intensiv und engagiert in den letzten Jahrzehnten auseinandergesetzt hat. Als außerordentlich sorgsamer Lehrer und Mentor hat er bei der philosophischen Ausbildung vieler Student*innen der KU Leuven in beiden erwähnten Bereichen wesentlich mitgewirkt. Und das Thema seiner Abschiedsvorlesung – „Planten: een filosofisch-ethische verkenning“ („Pflanzen: Eine philosophisch-ethische Aufklärung“) – stellte eine wichtige Etappe in seinem langjährigen Versuch dar, beide Forschungsbereiche zu verbinden.
Den Organisatoren dieser Tagung, Julia Jansen und Stefano Micali, ist es vor diesem Hintergrund gelungen, diese beiden Leidenschaften im beruflichen und auch persönlichen Werdegang von Ullrich Melle durch Einladung entsprechend ausgerichteter Forscher*innen zusammenzubringen: Diese haben ihren Beitrag zur Tagung beigesteuert, wobei auch mehrfach und verschiedentlich der Versuch der Verbindung von Phänomenologie und Ökophilosophie selbst diskutiert wurde.
In allen Fällen haben die Referenten und Referentinnen mit ihren Beiträgen zentrale Aspekte der vielfältigen Forschungsinteressen von Ullrich Melle aufgenommen, interpretiert und weiterentwickelt. Bei Rudolf Bernet und Stefano Micali war vor allem die Verbindung zwischen den phänomenologischen Analysen der Zeiterfahrung und ihren Variationen bzw. Alterationen im Fokus, wie sie sich in der besonderen Zeitlichkeit des Augenblicks (z.B. des Augenblicks der eigenen Emeritierung) oder in der merkwürdigen Erfahrung des Déjà-vu ergeben. Julia Jansen und Sebastian Luft haben die oft vernachlässigte – wenn nicht sogar kritisch hinterfragte – gesellschaftspolitische Relevanz der Phänomenologie und vor allem der phänomenologischen Methode auch in Hinsicht auf die Umweltproblematik betont. Dabei wurde zudem die Problematik einer intergenerationalen Ethik thematisiert, die ebenso im Fokus von Nicolas De Warrens Beitrag stand. Hinweisend auf die schwerwiegende Problematik der Abfallentsorgung (vor allem Plastik- und Nuklearabfall) wurde dabei die Frage nach einem Bruch in der intergenerationalen Verantwortung gestellt. Dabei handelt es sich um eine Problematik, die uns aufgrund der unvorhersehbaren Konsequenzen in unbestimmter Zeit – die aber sicherlich länger ist als die Zeit der menschlichen Existenz auf der Erde –vor die Frage unseres unverzeihbaren kollektiven Verhaltens stellt.
Die sozialpolitische und auch ästhetische Relevanz einer phänomenologisch informierten Ökophilosophie wurde demgegenüber in den Beiträgen von Glenn Deliège, Nathan Kowalsky, und Richard Cover hervorgehoben. Der rote Faden in diesen Beiträgen bestand in dem Versuch, das Verhältnis von Natur und menschlicher Gestaltung anhand konkreter Beispielen erneut zu durchdenken. Die Verbindung zwischen Phänomenologie und Ökophilosophie kennzeichnete auch den Abendvortrag von Tim Ingold, der ausgehend von der Beschreibung der Spannung zwischen unserer Erfahrung der Erde als Boden und unserem Wissen von der Erde als Planet die Frage nach dem besonderen Status des Himmels als ein nicht-gegenständliches Korrelat verfolgte.
Maren Wehrle, Dieter Lohmar und Dermot Moran konzentrierten sich in ihren Beiträgen auf die verschiedenen Facetten von Husserls Intersubjektivitäts- und Sozialitätstheorie und zeigten dabei auf, wie diese Anhaltspunkte anbieten, um sowohl die Dynamik als auch die Normativität von sozialen Verhältnissen in den Blick zu bringen. Diese betreffen nicht nur den Bereich des anthropologischen Mitseins, sondern auch die inter-spezifischen Formen der Kommunikation mit nicht-menschlichen Tieren. Aus einer von von Uexküll und Deleuze geprägten Perspektive zeigte Corry Shores schließlich, wie das Verhältnis zwischen Tier und Mensch auf der Ebene des sozialen Verhaltens betrachtet werden kann. Diese Betrachtung soll nicht so sehr im Sinne eines epistemischen Verstehens und auch nicht primär im Sinne einer Einfühlung aufgefasst werden, sondern vielmehr als Hinweis auf das mögliche “Tier-Werden” des Menschen und somit auf eine gewisse systemische und inter-spezifische Zusammengehörigkeit des Tier- und Mensch-Seins.
Wie diese kurze Übersicht zu zeigen versucht hat, war für Zuhörer*innen – ob mit Ullrich Melle oder der Merhheit der Vortragenden vertraut – nicht nur philosophisch aufschlussreich, sondern auch menschlich ergreifend, einerseits die Resonanz des Denkens von Ullrich Melle bei jedem Beitrag mitzuhören und andererseits auch die Originalität jeder Interpretation einschätzen zu können. Seinen eigenen Worten nach konnte sich Ullrich Melle in jedem Beitrag wiederfinden. Es handelt sich aber hier um ein Wiederfinden, das sicherlich in den kommenden Jahren nach seiner Emeritierung die Form einer Fortsetzung und Weiterentwicklung des eigenen Denkens im Dialog mit den jeweiligen Referenten und Referentinnen sowie mit der weiteren engagierten phänomenologischen und öko-philosophischen Gemeinschaft annehmen wird.