Reflexion, Interview

Interview mit Emmanuel Alloa über Wahrnehmung, Leiblichkeit und Medialität

Selin Gerlek, Emmanuel Alloa

30th January 2020

Emmanuel Alloa ist Research Leader an der Universität St. Gallen und parallel lehrtätig an der Universität Paris 8-Saint Denis. Für seine wissenschaftlichen Arbeiten wurde er 2016 mit dem Latsis-Preis ausgezeichnet. In diesem Gespräch mit Selin Gerlek geht es um die kürzlich erschienene Monografie Resistance of the Sensible World, die darin skizzierte Neujustierung einer Phänomenologie, verstanden als „Diaphänomenologie“, und die besondere Rolle, die dem Leib bei der Medialität jedweder Praxis zukommt.


SG: Lieber Emmanuel, La résistance du sensible. Merleau-Ponty critique de la transparence erschien erstmals 2008 im Pariser Kimé-Verlag. Seither ist diese frühe Schrift von Dir nicht nur 2014 in zweiter Auflage erschienen, sondern wurde mittlerweile auch in drei Sprachen übersetzt. Wie ich höre, wird noch mindestens eine weitere Übersetzung folgen. Die nun vorliegende englische Neuübersetzung trägt einen etwas abgewandelten und provokanten Titel: Resistance of the Sensible World. An Introduction to Merleau-Ponty. Ich möchte gerne zunächst den Aspekt einer „Einführung in Merleau-Ponty“ aufgreifen: David Morris hat kürzlich in seiner zu Recht sehr lobenden Rezension darauf hingewiesen, dass die Stärke dieser Schrift darin läge, die „dritte Welle“ der Merleau-Ponty-Forschung zu „komplementieren“.[1] Mir scheint hierin eine Zweideutigkeit bewusst eingestreut, kann man „to complement“ doch auf zweierlei Weise verstehen: als „ergänzen“ einerseits und „vervollständigen“ andererseits. Und tatsächlich finden sich mindestens zwei rote Fäden in Deinem inspirierenden Text: erstens den einer anspruchsvollen und originären Entfaltung der verschiedenen Entwicklungsetappen in Merleau-Pontys Werk und zweitens den einer Forderung nach einer noch (zu) kommenden Philosophie, der Du insbesondere den letzten Teil dieser Schrift widmest. Mit diesem zweiten Faden verlassen wir nun aber die Ebene einer Einführung in das Werk Merleau-Pontys und wir verlassen, scheint mir, auch jene dritte Welle der Merleau-Ponty-Rezeption, wie sie mit Beginn der Publikationen lange Zeit unveröffentlichter Vorlesungsnotizen, Gespräche usw. um die Jahrtausendwende einsetzte.

EA: Vielleicht kann man erst einmal soviel sagen: Das französische Merleau-Ponty-Buch, zu dem mich damals der wohl ausgewiesenste Merleau-Ponty-Interpret in Frankreich, Renaud Barbaras, ermunterte und das 2008 erschien, war für mich wichtig, und ich freue mich natürlich über die unerwartete und anhaltende Resonanz. Aber in meinen Augen war das Buch eigentlich nur ein Zwischenschritt, so eine Art Fingerübung für das ambitioniertere Projekt einer Umakzentuierung der Phänomenologie, die ich auch unter den Titel „Diaphänomenologie“ gestellt habe. Aus meiner Dissertation, die 2009 gleichzeitig in Berlin und an der Sorbonne eingereicht wurde, wurde dann zwei Jahre später die Monographie Das durchscheinende Bild. Konturen einer medialen Phänomenologie, die im Diaphanes-Verlag erschien, und das in englischer Fassung nun gerade von Columbia University Press übersetzt wird.

SG: Hinsichtlich dieser Skizze einer anderen, künftigen Phänomenologie sprichst Du in Resistance of the Sensible World davon, dass es vielversprechend wäre, Merleau-Ponty als „Denker des Operativen“ wieder zu entdecken. Gemeint scheint zunächst die Einsicht, dass alles, was erscheint, durch etwas erscheinen muss. Ausgehend von dieser „Medialisiertheit“ oder Medialität der Wahrnehmung lässt sich tatsächlich ein ganzes neues Feld an Gegenständen für die Phänomenologie ausmachen: Die operative Vermitteltheit von etwas bedeutet nämlich zugleich, dass ein Medium nicht einfach nichts ist, sondern gerade selbst über eine bestimmte Widerständigkeit verfügen muss, wenngleich diese vergessen bzw. „anästhetisiert“, also schlicht nicht-wahrgenommen bleibt. Bildet den Ausgang einer Phänomenologie also das Medium, dann findet damit vor allem eine Interessenverschiebung statt: Es geht weder um ein Subjekt, das Sinn stiftet, noch um die Beschreibung dessen, wie auf ein Widerfahrnis ein Antworten folgt. Mit Bezug auf den Leib sprichst Du in „Aktiv – Passiv – Medial“ (Alloa 2016, 137) daher auch folgerichtig vom Leib als „Entstand“, denn als Medium unserer Erfahrung ist er weder nur Gegenstand noch nur Mittel. Und er widersteht in der Wahrnehmung und Erfahrung und bringt daher etwas zum Erscheinen, und zwar auf eine bestimmte Weise: er ist strukturiert durch einen Sinnesapparat, durch Dispositionen usw. Doch Du adressierst mit „Medium“ keinesfalls lediglich den Leib. Medium ist alles, wodurch etwas in seinem Sosein erscheint. Es scheint stets das, was gerade nicht das Sosein ist und wodurch aber das Sosein überhaupt ermöglicht wird. Verweigert es sich auf diese Weise aber nicht grundsätzlich jeglichen Zugriffs, vor allem wenn wir Eugen Finks Unterscheidung von thematisch/operativ folgen?

EA: In der Tat spielt die Frage nach der Medialität dort, wie auch in Das durschscheinende Bild, eine zentrale Rolle. Es geht grundsätzlich um die Frage, welche Rolle im Prozess der Sinngenerierung Medien zukommt, und wie die Philosophie mit dieser Frage umgegangen ist. Die These von der ‚Medienvergessenheit’, der ich in dem Buch nachspüre, gilt nicht nur für weite Strecken der Metaphysikgeschichte, sondern auch für die Phänomenologie, oder besser gesagt, für eine bestimmte landläufige Auslegung derselben. Die Phänomenologie tut sich allgemein mit Medien und mit Vermittlungen schwer, gilt doch nach wie vor, dass Husserls Anliegen gerade darin bestand, mit der Philosophie des Repräsentationalismus aufzuräumen, die den Weltzugang verstellt hatte. Wenn Repräsentationalismus darin besteht, zu behaupten, wir hätten nie Zugang zu den Dingen selbst, sondern verfügten immer nur über Kopien oder defizitäre Vorstellungen davon, dann besagt Husserls These von der Intentionalität, dass wir uns tatsächlich in jedem Bewusstseinsakt auf die Sachen selbst beziehen, und nicht auf Repräsentationen davon. Diese These halte ich nach wie vor für einen ganz entscheidenden Durchbruch. Aber sie ist oft missverstanden worden. Denn dass wir uns auf die Sachen selbst beziehen (Anti-Repräsentationalismus) heißt noch nicht, dass wir uns auch schon unmittelbar auf sie bezögen. Wenn man einen Roman liest – etwa Joseph Conrads Heart of Darkness, was ich diese Tage gerade tue –, dann lese ich zwar das Werk selbst, und nicht nur aneinandergereihte Buchstaben auf einer Druckseite. Aber ohne die Buchstaben, ohne das Medienformat des Buches, ohne ein Schriftsystem, das als Konvention so etwas wie die Mitteilung von Sinn erlaubt, könnte ich mich zu dem Roman nicht verhalten. Reine Gedankenvariation hilft mir da nicht weiter. Husserl hätte diese medialen Aspekte als kontingent abgetan, weil sie zwar sinntragend, aber nicht sinnstiftend sind, und damit wiederholt er eine folgenschwere Dichotomie der philosophischen Tradition, was etwa Jacques Derrida in seiner eingängigen Husserl-Lektüre zeigen konnte.

SG: Doch Derrida wird hier, scheint mir, nicht die Lösung aller husserlschen oder traditionellen philosophischen Probleme liefern können, überhaupt mag der Blick auf das Operationale zwar mit Derrida geöffnet sein, aber mir scheint hier – und Dir dürfte es genauso gehen – etwas zu fehlen: der Leib...

EA: Derridas Dekonstruktion der Phänomenologie war wegweisend, allerdings ziehe ich nicht die gleichen Schlüsse wie er, und denke, die These einer ‚écriture généralisée’, also einer Art Transzendentalie der Schrift, greift zu kurz, um allen Sinnbereichen und ihren Erfahrungsweisen gerecht zu werden. Überhaupt verschwindet ja der Erfahrungsbegriff ganz in der Dekonstruktion, und ich denke, hier liegt in der Phänomenologie noch ein ganz anderes kritisches Potenzial, um diese Dimension wieder einzufordern. Vom ‚Primat der Wahrnehmung’ auszugehen, wie das Merleau-Ponty tut, zwingt dazu, woanders anzusetzen. Merleau-Pontys Phänomenologie der Leiblichkeit wartet allerdings nicht nur mit wichtigen Einwänden gegen ein Denken frei flottierender Signifikanten auf, sondern auch gegen die momentan so erfolgreiche Idee des direkten Realismus, gerade in Bezug auf die Wahrnehmungstheorie. Die ganze Embodiment-Debatte, und die damit verbundene Diskussion über den sogenannten neuen Materialismus krankt in meinen Augen vielfach daran, dass der Körper vielfach als ein‚Ding’ verstanden wird, das es zu rehabilitieren gälte. Als hilfreich erweist sich in meinen Augen, hier wieder die phänomenologische Differenz zwischen Leib und Körper geltend zu machen (und damit wäre ich auch bei Deiner Frage zu dem Konzept des Leibes als ‚Ent-stand’). Denn der Punkt an der Idee von Leiblichkeit ist ja gerade, dass sich der eigene Leib nie vollständig objektivieren lässt, weil er uns nie als abgeschlossener Gegenstand entgegentritt und auch, anders als ein Werkzeug, einfach weggelegt werden kann, wenn wir ihn nicht mehr brauchen. Leiblichkeit ist adjektivisch (wir handeln und denken, ob wir es wollen oder nicht, leiblich) und zugleich operativ (wir wirken nicht auf unseren Leib ein, sondern durch ihn hindurch). All diese Aspekte lassen den Leib zum Paradebeispiel eines anderen Konzepts von Medialität werden.

Der Leib ist buchstäblich ein Un-Ding, eben weil er nicht restlos vergegenständlicht werden kann. Aber mit dieser negativen Bestimmung ist es noch nicht getan: Der Leib ist weniger Ding denn Medium, wir nehmen nicht den Leib wahr, sondern leiblich wahr, und zwar anderes als den Leib selbst. Die mediale Struktur des Leibes ist durch das Präfix dia („hindurch“) angezeigt. Medien sind immer unselbstständig und heteronom, aber zugleich lassen sie etwas sichtbar werden, was ohne sie nicht wäre, und so ist es auch für den Leib: Durch ihn hindurch fächert sich eine Welt auf, wie Merleau-Ponty sagt. Mit einem solchen leiblich-situativen Konzept von Medialität lässt sich auch eine Korrektur an anderen, rein logischen Konzepten von Vermittlung vornehmen. Die Kurzfassung lautet dann, dass ich der Meinung bin, dass sich die Phänomenologie der medienphilosophischen Frage stellen muss, die Medienphilosophie umgekehrt aber eine phänomenologische Grundierung braucht, wenn sie nicht Gefahr laufen soll, entweder als eine weitere Kommunikationstheorie irrelevant oder als Medienmetaphysik spekulativ zu werden.

SG: Deinen Überlegungen zu einer diaphänomenologischen Neu-Perspektivierung der Phänomenologie möchte ich mit Bezug auf den „Leib als Paradebeispiel“ gerne weiter folgen. Die Frage ist nämlich, ob der Leib tatsächlich nur Paradebeispiel ist oder nicht vielmehr mehrere Konzepte von Medialität einfordert: Verstehen wir Leiblichkeit nämlich einerseits als „Komponente meiner Erfahrungen“ (2016, 147), also als adjektivisch, und andererseits als Vollzugsmedium und somit operativ, lassen sich hiervon ausgehend einige weitere Aspekte von Medialität diskutieren: Geht man etwa auf Dein Beispiel des Mediums der Lektüre zurück, wonach es das Buch und die Buchstaben sind, durch welche ein Sinnstiftungsvollzug statthat, ließe sich die Frage stellen, ob Medialität mit Bezug auf das Buch und mit Bezug auf den Leib nicht jeweils etwas anderes meinen muss: Ist ein Text Medium bei der Lektüre, ist es während dieser Erfahrung unthematisch. Es ist zudem, wie Du sagst, unselbständig. Doch ist es tatsächlich sinnstiftend, wie Du einforderst? Ein Buch oder ein Text lässt sich zudem objektivieren; wir können über die „operationale Schicht“ eines Textes, wie Jean-Pierre Schobinger sagt, nämlich sprechen: Conrads Heart of Darkness nutzt bestimmte Metaphern, hat eine bestimmte grammatische Struktur oder aber Deine Ausgabe verfügt über x Seiten usw. Beim Leib scheint dies anders zu sein: Wenngleich er in unserer Erfahrung selbst ebenfalls nicht thematisch in Erscheinung tritt, sondern immer operativ ist, also dasjenige ist, wodurch ich mich zu den Dingen und Anderen verhalte, scheint hier kein objektivierender Zugriff auf der gleichen Ebene möglich zu sein, da er gerade und ausschließlich adjektivisch in Erscheinung tritt: Ich empfinde, weil ich ein leibliches Ich bin. Ein weiterer Unterschied zum Buch als Medium scheint zudem darin zu bestehen, dass der Leib selbst über eine Struktur verfügen muss, wie Du auch selbst sagst, doch ist diese Strukturiertheit nicht auf die gleiche Weise zu bestimmen wie etwa die Struktur eines Textes: Leiblichkeit bedeutet stets, bestimmte Erfahrungen bereits gemacht zu haben, die in einer aktuellen Erfahrung als Disposition ihre Wirkung entfalten zu können. (Die Operativität von) Leiblichkeit scheint sich aufgrund ihrer spezifischen Zeitstruktur einer Bestimmung als „unselbständig“ zu widersetzen.

EA: Das sind alles sehr interessante Überlegungen, die noch einmal vor Augen führen, wie viel Klärungsbedarf noch besteht, wenn wir es mit Phänomenen der Medialität zu tun haben. Die philosophische Tradition hat uns jedenfalls nur schlecht dafür ausgerüstet. Ob wir den Medienbegriff weiter differenzieren und spezifizieren müssen? Unbedingt, denn schließlich operieren nicht alle Medien gleichermaßen. Den Leib als Medium zu fassen, ist da ohnehin vermutlich gewöhnungsbedürftiger als die These, dass die Schrift ein Medium ist. Aber wenn man sich die Vorstellung zu eigen machen kann, dass der Leib ebenfalls ein Medium ist – eben weil er selbst ein Un-Ding darstellt, das als Medium wirkt und uns wiederum erlaubt, uns zu anderen Dingen zu verhalten und in ein Verhältnis zu setzen (etwa wenn sich durch den Leib und aufgrund der ihm inhärenten Beweglichkeit für uns ein Erfahrungsraum auffächert und an Tiefe gewinnt) –, dann stellt sich die Frage, ob dem Leib unter allen Medien eine Sonderrolle zukommt. Ich würde dazu neigen, die Frage zu bejahen, allerdings nicht aus den gleichen Gründen.

Das Missverständnis scheint mir darin zu liegen, was hier als ‚Unselbstständigkeit’ gefasst wird. Ich würde behaupten, dass Medien grundsätzlich immer unselbstständig sind, und dass sie also immer durch eine grundsätzliche Heteronomie gezeichnet sind. (Das ist ein Aspekt, den etwa Sybille Krämer sehr überzeugend herausgearbeitet hat.) Alles kann grundsätzlich zum Medium werden (daher ist die Definition des Mediums ja auch an keine materielle Eigenschaft geknüpft, sondern muss funktional sein), doch wenn etwas als Medium fungiert, dann besteht die Medialität darin, dass durch das Medium etwas (anderes) zur Geltung kommt. Medien sind in diesem Sinne wie Boten, die stets mit fremder Stimme sprechen: ihnen wird etwas aufgetragen oder aufgeprägt (etwa eine Form), das sie übermitteln. Sie brauchen den Sinn dessen, was sie zur Geltung kommen lassen, nicht nachvollziehen, ganz im Gegenteil. Oft gilt es gerade als Ausweis von Verlässlichkeit, wenn ein Bote keine Gelegenheit hat, auf den Inhalt der Botschaft Einfluss zu nehmen. Kurzum: Medialität beginnt immer anderswo, sie wird von anderswoher veranlasst, und hat damit weder ihren Grund noch ihr Ziel in sich selbst.

SG: Womit wir bei einigen Medienbestimmungen wären, von denen Du Dich mit Deiner Diaphänomenologie mitunter stark abgrenzt, denkt man etwa an den französischen Originaltitel der nun erschienen englischen Übersetzung: Merleau-Ponty critique de la transparence...

Die Idee der Heteronomie der Medien ist oft falsch verstanden worden, nämlich so, als könne von einem Sinngehalt – also etwa: von einer Botschaft – das mediale Moment abgezogen werden. Die Heteronomie der Medien wurde mit der These der Transparenz der Medien gleichsetzt, welche besagt, dass Medien ihrer Aufgabe umso besser nachkommen, als sie selbst unsichtbar bleiben: nur dann eröffnet die Glasscheibe den Ausblick, wenn von ihr ab- und durch sie hindurchgesehen wird. Ähnliches gilt für das Botenmodell: Die Persönlichkeit oder die Meinung des Boten darf keine Rolle spielen; der Bote muss austauschbar sein, er muss von sich selbst absehen und letzten Endes sogar im besten Sinne des Wortes ‚verschwinden’. (Der Inbegriff des transparenten Mediums wäre demnach der Läufer von Marathon, der der Legende nach tot zusammenbrach, nachdem er die Nachricht überbracht hatte. Wichtig ist am Ende nur noch der Sinn, der übermittelt wurde.) Auf das Romanbeispiel bezogen: Ob ich nun eine limitierte Lederausgabe oder ein Taschenexemplar vom Bahnhofskiosk besitze, dürfte am ‚idealen Gehalt’ des Romans nichts ändern; jeder von uns könnte mit guten Gründen behaupten, den selben Roman gelesen zu haben (auch wenn natürlich jeder ein anderes Medium verwendet hat).

Es ist aber keineswegs so, dass Medien grundsätzlich immer besser funktionieren, wenn sie von sich selbst ablenken. Dass Medien nie ‘für sich selbst’ Geltung beanspruchen können, ohne aufzuhören, als Medien zu fungieren, heißt noch lange nicht, dass sie nicht oft einen erheblichen Anteil an dem Sinngehalt haben, den sie weitergeben. Grund für dieses Missverständnis ist in meinen Augen, dass die Reflexion über Medien zu sehr den sogenannten digitalen Medien geschuldet ist, und damit Medien, bei denen ein standardisierter Code bereitsteht, der mit dem Versprechen einhergeht, prinzipiell jeden Inhalt transportieren zu können. Der Code, das ist hier der springende Punkt, tritt nicht eigens in Erscheinung. Bei analogen Medien sieht dies schon ganz anders aus: die mediale Form kann nicht einfach weggerechnet werden, eben weil sie in der Regel ‚mitgesehen’ wird; sie läuft adjektivisch mit, wenngleich anderes an ihr gesehen wird, nämlich ein bestimmter Sinn. Bei diesen Medienkonstellationen anzusetzen, bedeutet, ihrer ‚aisthetischen‘ Dimension Rücksicht zu tragen. Dass Medien Aufschluss geben, und insofern Mittel der Sichtbarmachung sind, lässt noch nicht den Umkehrschluss zu, dass sie selbst nie in Erscheinung träten. Vielmehr treten sie nicht ‚selbstständig’ auf und werden nicht ‚an und für sich’ genommen (immer wenn man meint, Medien im Reinzustand betrachten zu können, hören sie auf, ihrer Leistung nachzukommen, und sinken in den Zustand bloßer Dinglichkeit zurück: Das passiert, wenn man zu lange auf die Buchstaben starrt, die sich nicht mehr zu Worten fügen und die Druckerschwärze in jeder Hinsicht nur noch im Weg steht).

Wenn ich in meinem Entwurf einer Diaphänomenologie versucht habe, der Medientheorie die phänomenologische Methode anzuempfehlen, dann deshalb, weil man aus diesem Engpass nur herauskommt, wenn man die Erscheinungsdimension von Sinn wieder ernst nimmt. Wenn Medien etwas zur Geltung kommen lassen, dann nicht als eine Art apriorische Transzendentalie, sondern als Grundierung von Sinn, gleichsam als die sinnlichen, aber selbst nicht sinnhaften Armaturen von Bedeutung. Dass unsere Aufmerksamkeit nie dem Medium allein und seiner Machart (seinem Sosein) gilt, heißt noch nicht, dass dieses Sosein keinen Einfluss auf den Seinssinn hätte, den es in Erscheinung treten lässt. Womit ich ja bei der Grundidee der Diaphänomenologie bin, nämlich dass es eine irreduzible mediale Dimension allen Erscheinens gibt, und an den Phänomenen stets durchscheint, was sie in Erscheinung treten ließ. Besonders nachvollziehbar ist dies in allen Sinnregionen, in denen es auf die genaue Machart des Mediums ankommt: Wir können nicht über Bücher im Allgemeinen sprechen, bei einigen – etwa im Falle von Lyrik – lässt sich der ideale Gehalt gar nicht von der Disposition auf der Seite, der geradezu typographischen Gestaltung des Sinns, abtrennen. Ähnliches ließe sich für Musik einwenden, für Tanz, fürs Theater oder für den Film. Aber die Variationssensibilität ist keineswegs nur auf das künstlerische Feld beschränkt, sondern erstreckt sich noch auch ganz andere Bereiche, etwa auf die medizinische Diagnostik: Dass es heute nach wie vor schwierig ist, ärztliche Diagnosen per Telefon durchzuführen, spricht dafür, dass es hier um (Krankheits-)Erscheinungen geht, die man immer nur an ihrem jeweiligen Medium (hier: am Leib) ablesen kann und die der Deduktion allein nicht zugänglich sind.

SG: Mich erinnert das nicht von ungefähr an Deine Ausführungen zur „Symptomatik“ als möglicher Zugriff: In Das durchscheinende Bild greift das „Symptom“ dort, wo kein Zugriff ‚auf die Sache selbst’ möglich ist. Andererseits geht es aber nicht um einen Stellvertreter oder um ein Symbol in absentia, sondern um ein Zeichen, das, medizinisch gesprochen, an einem Körper auftritt, über dessen Zustand es Aufschluss gibt. Wir sind also wieder beim Leib angekommen...

EA: In der Tat. Ich stehe nie vor meinem eigenen Leib, vielmehr läuft er am Rand meines Wahrnehmungsfeldes immer mit. Insofern kann ich daran sehr gut ablesen, was mit diesem medialen Mitsehen gemeint sein kann. Hat der Leib nun eine Sonderstellung? Jedenfalls nicht aufgrund seiner Opazität, denn diese eignet auch anderen Medien, die im Vollzug nicht vollständig ‚aufgehen’. Ebensowenig aufgrund seiner Autonomie, denn es ist keineswegs so, wie Husserl behauptet, dass ich im Leib ungehindert „schalten und walten“ kann: Viele leibliche Abläufe entziehen sich meinem Zugriff schlicht. Sinnvoller ist es wohl, den Leib als eine Art „Nullmedium“ anzusehen, den wir nicht tilgen können, ohne zugleich die Möglichkeit von Erfahrung schlechthin zu tilgen. Leiblichkeit zu rehabilitieren, bedeutet dann, einerseits die ‚Fahrzeuge‘ unserer Erfahrung zu rehabilitieren, andererseits aber auch auf die irreduzible Sinnlichkeit allen Sinns hinzuweisen. Das scheint mir in vielerlei Hinsicht wichtig, im Kontext ästhetischer Praktiken etwa, aber auch in ethischer Hinsicht, wenn es um Fragen von Verletzlichkeit geht. Intersubjektivität beginnt, wie Merleau-Ponty immer wieder betont, als Interkorporeität, aber auch als Interanimalität, und das sollte zu denken geben, nicht zuletzt wenn es um die Frage geht, wie wir anderen Lebensformen begegnen.


[1] http://ndpr.nd.edu/news/resistance-of-the-sensible-world-an-introduction-to-merleau-ponty/


Wir danken Emmanuel Alloa für das Gespräch. Das Interview für et al. führte Selin Gerlek.

Weitere Informationen zu Emmanuel Alloa findet man hier und hier.