Call for papers
Wir erleben eine Gegenwart der Krisen: Klimawandel, Pandemie, politische Radikalisierung, wachsende ökonomische Ungleichheit, Migration, digitaler Wandel und Kriege inmitten oder an den Grenzen Europas – diese Ereignisse und Entwicklungen zu analysieren, ihre Ursachen zu verstehen und Handlungsmöglichkeiten aufzuzeigen, ohne in eine leere oder gar überhitzte Krisenrhetorik zu verfallen, ist eine der gesellschaftlichen und intellektuellen Herausforderungen unserer Zeit. Auch Philosophie als Besinnung, Reflexion und Kritik ist hier gefragt – wird aber gleichzeitig in Frage gestellt hinsichtlich ihrer Relevanz für Meinungsbildung und Handlungsorientierung, sowie hinsichtlich ihrer eigenen Kategorien, die möglicherweise nicht (mehr) geeignet sind, die aktuellen Krisen zu erfassen.
Krisen und Krisendiagnosen sind freilich nichts Neues. 2025 jähren sich Edmund Husserls Wiener und Prager Vorträge „Die Philosophie in der Krisis der europäischen Menschheit“ zum neunzigsten Mal. Dies gibt Anlass, Phänomenologie als krisendiagnostische und kritische Denkbewegung in den Blick zu nehmen, und zwar sowohl im Hinblick auf ihre Geschichte – die ebenfalls kritisch zu beleuchten ist (Stichwort Eurozentrismus) – als auch im Hinblick auf ihr aktuelles systematisches Potenzial. Das Themenspektrum der Tagung reicht von der systematischen Analyse phänomenologischer Krisendiagnosen (Scheler, Arendt, Anders, Patočka u.a.) über den Kritikbegriff in der Phänomenologie und ihr Verhältnis zur Kritischen Theorie bis hin zu neueren Forschungen zu Husserls Krisenschrift und aktuellen systematischen Ansätzen phänomenologischer Forschung in den Bereichen politischer, klimaethischer, digitaler und technikphilosophischer Fragestellungen. Dies spiegelt sich in den Sektionen des Kongresses wider.
Plenarvorträge
Andreea Smaranda Aldea (DePaul University), Ian H. Angus (Simon Fraser University), Elodie Boublil (Université Paris Est Créteil), Manon Garcia (FU Berlin), Petra Gehring (TU Darmstadt), Timo Miettinen (Universität Helsinki), Corine Pelluchon (Universität Paris Est Marne-la-Vallée), Hartmut Rosa (Universität Jena), Peter Trawny (Universität Wuppertal), Nicolas de Warren (Penn State), Chung-Chi Yu (National Sun Yat-sen University)
Einreichungen
Bis 31. März 2025 können Sie sich mit einem max. 500 Wörter langen Abstract für einen deutsch- oder englischsprachigen Vortrag von max. 30 Minuten bewerben. Die Auswahl der Beiträge treffen die Sektionsleitungen in einem blinden Auswahlverfahren. Anonymisieren Sie daher bitte Ihr Abstract und geben Sie die Sektion an, auf die Sie sich damit bewerben. Maximal 2 Einreichungen pro Person für verschiedene Sektionen sind zulässig. Jede Person kann aber maximal an einem Sektionsvortrag beteiligt sein. Die Bekanntgabe der Auswahl erfolgt Anfang Mai. Senden Sie Ihren Vorschlag bitte an krisisundkritik2025@phil.tu-darmstadt.de.
Praktische Informationen
Die Eröffnung der Tagung erfolgt voraussichtlich am Mittwoch, 24.9., um 16 Uhr, der Abschluss am Samstag, 27.9. um 15 Uhr. Es wird eine Tagungsgebühr eingehoben werden, diese inkludiert sämtliche Abendveranstaltungen. Für den Zeitraum der Tagung wurden Hotelkontingente reserviert, Informationen dazu werden beizeiten auf der Tagungswebseite zu finden sein. Es wird eine kostenfreie Kinderbetreuungsmöglichkeit geben, um auch Personen mit Betreuungsverpflichtungen die Tagungsteilnahme zu ermöglichen.
Doktorand*innenkolloquium
Den Auftakt der Jahrestagung bildet am 23.-24.9.2025 ein Kolloquium für Promovierende. Für dieses wird es im Frühjahr einen eigenen Call for Papers und ein gesondertes Auswahlverfahren geben. Promovierende werden jedoch ausdrücklich dazu eingeladen, sich auch für einen Sektionsvortrag zu bewerben.
Sektionen
I. Phänomenologische Krisendiagnosen und Krisen der Phänomenologie
II. Die Lebenswelt, ihre Mathematisierung, Technisierung und Digitalisierung
III. Ethik, Existenz und Verantwortung in der Krisis
IV. Europa, Eurozentrismus, Interkulturalität und postkoloniale Kritik
V. Phänomenologie und die Krisen der Gegenwart
VI. Kritische Theorie, kritische und politische Phänomenologie
Bitte beachten Sie die folgenden detaillierten Sektionsbeschreibungen:
Sektion I. Phänomenologische Krisendiagnosen und Krisen der Phänomenologie
(Leitung: Prof. Dr. Sonja Rinofner-Kreidl)
Phänomenologische Krisendiagnosen werden im gesamten Spektrum individuellen und kollektiven Denkens und Handelns gestellt. Sie beziehen sich zum einen auf theoretische Kernfragen, etwa auf die Abgrenzung von Philosophie, Wissenschaft und Weltanschauung und zugehörige Formen des Umgangs mit Rationalitäts- und Vernunftkonzepten wie dies in Husserls Krisis-Schrift erörtert wird. Zum anderen geht es um ethisch- bzw. politisch-praktische Fragestellungen wie z. B. in Schelers Untersuchung der Wertumkehr als Bestandteil von Ressentiment-Bildungen oder in Arendts Analyse der Genozid-Schuldfrage im Kontext politischen Handelns. Was die inhaltlich breit gefächerten phänomenologischen Krisendiagnosen eint, ist die Verflechtung von kritischem Befund und Selbstpositionierung: Weltgerichtete Krisendiagnosen und Krisen der Phänomenologie sind genuin zusammengehörige Prozesse. Im Spiegel ihrer Krisendiagnosen schärft und unterscheidet sich das Selbstverständnis und die Identitätsfindung der Phänomenologie und ihr Potential an methodologischer Selbstreflexion. Dem soll in dieser Sektion im Lichte aktueller Problemlagen nachgegangen werden. Ziel ist, die Phänomenologie in theoretischen und praktischen Kontexten neu zu positionieren und im Zuge dessen einen (selbst)kritischen Blick auf Begriff und Rhetorik der Krise zu werfen.
Sektion II. Die Lebenswelt, ihre Mathematisierung, Technisierung und Digitalisierung
(Leitung: Prof. Dr. Sebastian Luft)
Sektion II widmet sich der Lebenswelt, ihrer Mathematisierung und Technisierung, wie sie in Husserls „Krisisschrift“ thematisiert wird. Darüber hinaus soll es um die Frage gehen, wie es sich mit der Krisis der Wissenschaften verhält: Welchen Anspruch hat die Phänomenologie in einer ausdifferenzierten Wissenschaftswelt, die ihre Grundlagenkrisen scheinbar hinter sich gebracht hat? Eingeladen wird sowohl zur Präsentation neuer Forschung zur Krisisschrift sowie zu einer Extrapolation der Frage, wie sich Technik und Lebenswelt zueinander verhalten. Dies kann am Beispiel digitaler Technologien, ebenso wie an szientistischen Welt- und Selbstvermessungen durchgespielt werden: Welche Rolle spielt die Lebenswelt im Zeitalter digitaler Technologien? Inwiefern ist sie eine Hybridwelt, die von Technologie durchdrungen ist?
Sektion III. Ethik, Existenz und Verantwortung in der Krisis
(Leitung: Prof. Dr. Michela Summa)
Sektion III nimmt Ausgang von den ethischen und existenziellen Themen in der Krisisschrift Husserls und entwickelt sie darüber hinaus. Wie verhalten sich philosophische Krisendiagnose und ethischer sowie politischer Imperativ zueinander? Husserl verknüpfte seine Analysen bekanntermaßen sowohl mit existenziellen Themen als auch mit einem Rückgang auf die transzendentale Phänomenologie, was gleichzeitig deren Entfaltung zu einer Verantwortungsphilosophie markierte. Auch Arendt, Levinas, Derrida und Waldenfels plädieren aus unterschiedlichen Perspektiven für Verantwortung, während die französischen Existenzialist*innen wie Beauvoir und Sartre als Intellektuelle politisch aktiv waren. Wie ist eine solche Verantwortung angesichts gegenwärtiger Krisen zu denken?
Sektion IV. Europa, Eurozentrismus, Interkulturalität und postkoloniale Kritik
(Leitung: Prof. Dr. Thiemo Breyer, Prof. Dr. Thomas Szanto)
Sektion IV setzt sich mit dem eurozentristischen Erbe der Krisisschrift und vor allem mit dem der „Wiener Vorträge“ auseinander. Was ist gegenwärtig für das phänomenologische Nachdenken über Europa geboten? Wie könnte Phänomenologie dazu beitragen, transnationale Solidarität angesichts von Migration neu zu fassen? Und wie ließen sich soziale Kohäsion und transeuropäische Identifikation jenseits nationalstaatlicher Grenzen oder etablierter Gruppenzugehörigkeiten denken? Wie ist mit dem kolonialen und eurozentristischen Erbe umzugehen? In den letzten Jahren ist das Anliegen, die Phänomenologie zu „dekolonisieren“ stärker vorangetrieben worden, was auch ein (immer wieder) neues Nachdenken über Europa notwendig macht. Gleichzeitig differenziert sich der interkulturelle Dialog und Polylog weiter aus. Was kann die klassische Phänomenologie von nicht-europäischen Zugängen lernen und welche neuen Formen des Phänomenologisierens ergeben sich dadurch (z.B. Africana Phänomenlogie)?
Sektion V. Phänomenologie und die Krisen der Gegenwart
(Leitung: Prof. Dr. Emmanuel Alloa, Prof. Dr. Lambert Wiesing)
Sektion V widmet sich den Krisen der Gegenwart und der Frage, welchen Beitrag phänomenologische Ansätze zu ihrer Analyse liefern können. Klimakrise und Ökologie, Krieg und Flucht, Migration und der politische bzw. populistische Umgang damit, Digitalisierung und die Krise von Sozialität und Öffentlichkeit – dies alles sind Themen, in denen klassische phänomenologische Zugänge und Analyseinstrumente sich neu erproben müssen. Kann die Phänomenologie mit ihrem generellen Ansatz, Phänomene und deren Strukturen ins Auge zu fassen, hier einen Beitrag leisten? Wie sehen diesbezügliche Methoden und Grenzen aus? Welche Fokusthemen wie Leiblichkeit, Sinnkonstitution, Erfahrungscharakter, Empathie, etc. spielen für gegenwärtige Krisenanalysen eine besondere Rolle und warum?
Sektion VI. Kritische Theorie, kritische und politische Phänomenologie
(Leitung: Prof. Dr. Thomas Bedorf, Prof. Dr. Matthias Flatscher)
Kritische Theorie und Phänomenologie haben, zumindest ihrem historischen Selbstverständnis nach, keine unmittelbar gemeinsame Agenda – das Verhältnis ist eher von schwierigen Auseinandersetzungen bis zur Ablehnung geprägt. Dennoch hat sich in den letzten Jahren v.a. in der anglo-amerikanischen Debatte eine Strömung namens „critical phenomenology“ entwickelt, die kritisch-aktivistische Momente mit phänomenologischer Theoriebildung verbinden will. Handelt es sich bei dieser Art einer „politischen Phänomenologie“ tatsächlich um einen gegenüber den bekannten Phänomenologien neuen Ansatz? Wie „kritisch“ ist das Verhältnis zur sog. klassischen Phänomenologie? Wie steht es überhaupt mit einer Klärung der Begriffe „Phänomenologie“ und „Kritik“?