Reflexion, Rezension

Dorothée Legrand, Écrire l'absence. Au bord de la nuit – Leyla Sophie Gleissner

Leyla Sophie Gleissner

24th September 2019

In Mundhöhe, fühlbar: 
Finstergewächs.*


Survivre

Comment survivre à l’absence? lautet die Frage, um die dieser dichte, vielschichtige Text kreist und für die er Antworten sucht und findet, vielstimmige – philosophische, klinische wie poetische. In der Wahl des Ausgangspunktes spiegelt sich bereits das vorangestellte Ziel der Arbeit Legrands, deren Rückführung auf rein reflexive Sphären sich schnell verbietet. Die Frage danach, wie ein Überleben möglich ist, angesichts einer Abwesenheit, die das Subjekt zum Ver-Schwinden zu bringen droht, unterscheidet sich deutlich von derjenigen Frage, was absence ist und unter welchen Bedingungen deren adäquate Bestimmung möglich sei (vgl. S. 29). Legrands Projekt versteht sich in spürbarer Nähe zu Emmanuel Levinas nicht als ontologisches Denken, sondern als explizit ethische Praxis. Dabei ist es eine besondere Form der Praxis, die den Takt angibt – die psychoanalytische in ihrer lacanianischen Färbung. Fragt Legrand danach, wie ein Überleben möglich ist, ist dies deshalb kaum metaphorisch, sondern ganz konkret zu verstehen: Was erlaubt es jemandem, das eigene Leiden zu mindern und so das Überleben sicherzustellen? Und welche Form der klinischen Arbeit erlaubt es jemand zweitem, die Leidende auf diesem Weg zu begleiten? Was ist zu tun, damit die andere überleben kann?


Absences

Eine erste Antwort bietet Legrand, indem sie zwischen zwei Formen der Abwesenheit differenziert. Die erste Form ist die absence invivable, die das leidende Subjekt durchdringt und jedes Außerhalb ihres Abgrunds zu negieren gewillt ist. Die zweite Form bezeichnet Legrand als absence vitale, die lebendige, lebenswichtige Form der Abwesenheit. Letztere ist nicht Ab-Wesenheit – im Sinne einer Kehrseite der wesenhaften Präsenz. Sie ist auch nicht Abwesenheit als Mangel von etwas (vgl. S. 145). Vielmehr fungiert sie als struktureller Moment des Bruchs (vgl. S. 22) mit einer für das einzelne Subjekt unerträglichen Totalität, die es einzuverleiben, anzueignen und somit letztendlich im Ganzen aufzuheben versucht. L’absence vitale ist ein, mit Lacan gesprochen, pas-tout (vgl. S. 105), ein „nicht-alles“, das sich seiner erzwungenen Offenlegung und Einverleibung unwiderruflich widersetzt.


Absence irréductible

In diesem Sinne ist die Bestimmung der absence vitale paradoxaler Natur: Definierbar ist sie allein als irreduzibel – irreduzibel auf allgemeine Kategorien, sich ihrer vollständigen begrifflichen Offenlegung verweigernd. So verunmöglicht jene Form der Abwesenheit auch die Einbettung in ein spezifisch philosophisches Vokabular: absence ist kein Erfahrungsmodus unter vielen, keine Modalität der Anwesenheit (vgl. S. 29). Der Versuch adäquater Beschreibung der absence vitale im Lichte allgemeiner Erkenntnis riskiert Legrand zufolge bereits ihre Neutralisierung. Jene Gebärde der neutralisierenden Einbettung macht die Autorin in der Sphäre der Transzendentalphänomenologie aus, der sie im Anschluss an Jacques Derrida attestiert „Metaphysik der Präsenz“ (S. 29) zu sein.


Epoché und écoute suspensive

So sind weite Teile des Buches als kritisch informierte psychoanalytische Bezugnahme auf verschiedene Phänomenologien zu verstehen. Dabei gelingt es Legrand zwei häufig stattfindende Formen der diskursiven Auseinandersetzung mit dem Verhältnis zwischen Phänomenologie und Psychoanalyse zu umgehen. Weder stellt Ecrire l’absence den Versuch dar, eine Synthese zwischen Psychoanalyse und Phänomenologie herzustellen, noch behauptet es, eine gegenseitige Bezugnahme zwischen deren Sphären sei aufgrund konstitutiver Unterschiede nicht sinnig. Stattdessen werden Differenzen klar aufgezeigt, als solche anerkannt und zu Ressourcen verwandelt.

Deutlich wird Legrands Methode an ihrem sorgfältigen und produktiven Umgang mit ausgewählten Teilen des phänomenologischen Vokabulars, wie folgend deutlich werden soll: Zur wiederholten Annäherung an die Frage Wie überleben? gilt es zunächst innezuhalten – im Ausschluss alles für Wahrgehaltenen, in der Einklammerung alles Geglaubten, sprich: im Rückgang auf die wichtigste Geste der Phänomenologie – der Epoché. Anders als bei Husserl ist Legrands Epoché jedoch nicht die reduktive der Transzendentalphänomenologie. „Epoché ohne Reduktion“ lautet stattdessen ihr Leitfaden. Tatsächlich bildet das principe d’irréductibilité (S. 36 f.) die methodische Grundlage der von Legrand angestrebten Ethik der Psychoanalyse: Die psychoanalytische Epoché ist nichts anderes als das aufmerksame, urteilsfreie Écouter, das Zuhören, das für Legrand nicht weniger vermag als Leben zu retten. Urteilsfrei ist es deshalb, da keine Vorannahmen über das Erzählte existieren dürfen. Die Psychoanalyse erweist sich in ihrer hier skizzierten Form als écoute suspensive (S. 66).


Ethique de la singularité

Was sich nun anzeigt ist eine klinische Ethik der Singularität (vgl. S. 105). Denn die Regel des écoute suspensive trägt vor allem Implikationen dafür in sich, wie die andere, die Sprechende, der urteilsfrei zuzuhören ist, verstanden wird. Die Sprechende ist, so Legrand, irreduzibel singulär. Als singuläres Subjekt übersteigt sie jede Einordbarkeit in den Bereich des Allgemeinen. Nichts am Sprechen der anderen ist richtig oder falsch. Nichts muss so gesagt werden „wie es ist“. Legrand widersetzt sich der Vorstellung, ein ursprünglicher Sinn sei gegeben und artikuliere sich unmittelbar in der Sprache – und selbst noch in ihrem Versagen (vgl. S. 92 ff). Legrand gesteht der Sprechenden stattdessen zu, dass manches zu sagen unmöglich bleibt. Und sie erinnert die Zuhörende daran, dass manches Gehörtes ewig im Bereich des Unverständlichen verweilen muss. In Anlehnung an Levinas schreibt sie: „parler fait la singularité irremplaçable de ce ‚quelqu’un’ que je suis et qui répond à ce ‚quelqu’un’ que je ne suis pas.“ (S. 108)

Tatsächlich wird hier mit aller Vehemenz deutlich, welche Psychoanalyse Legrand entwirft. Es ist nicht die Psychoanalyse „als solche“, von der so oft die Rede ist und von der aber doch unklar bleiben muss, was sie bezeichnet. Legrands Psychoanalyse ist eine bestimmte, eine die im hier und jetzt des psychoanalytischen Raumes entwickelt wird – im Sprechen und im Zuhören:

En ce point [...] la psychanalyse s’éloigne de la phénoménologie transcendantale, car là où, après la suspension du monde, la phénoménologie en construit un relève dans le champ transcendantal hors monde, la psychanalyse irréductionniste s’en abstient au contraire et privilégie, au sens strict, l’épreuve de ce qui se donne nulle part ailleurs que là où ça se donne, au moment même où ça se donne, la même où a lieu l’analyse : dans la parole que la bouche de l’analysant adresse à l’oreille de l’analyste. (S. 63)

Ein solches Sprechen und Zuhören findet sich weder in der Transzendentalphänomenologie noch in etwas, was man mit Transzendentalpsychoanalyse bezeichnen könnte (vgl. S. 57 f.), da beide jeweils das Ziel verfolgen, einen „Ursprung“ des Problems festzuzurren und beweisen zu wollen – letztere, indem im Sprechen eine ursprüngliche Wahrheit ausgedrückt oder wechselwirkend im Zuhören eine ursprüngliche Wahrheit aufgedeckt wird. Vielmehr wird die Epoché von Legrand noch einmal be- und gedacht, um auf die „règle fondamentale“ der Psychoanalyse zu treffen: „Dire!“ / Sagen! (S. 65).


Dire

Das Ziel dieser Psychoanalyse ist es zunächst zu sprechen, „dire n’importe quoi“ (S. 189), irgendetwas zu sagen. Jenes „Dire“ (Sagen) ist eines, das mit einem „dit“ (Gesagten) nicht zusammenfallen – und deshalb auch nicht auf es reduziert werden kann (S. 65). Das „Dire“ bewegt die psychoanalytische Begegnung, während das „dit“ abwesend bleiben muss. Die lebensrettende Aufgabe der Psychoanalyse besteht nun darin, mit An- und Abwesenheit etwas nicht Dagewesenes zu „komponieren“ (vgl. S. 20), mit ihnen zu spielen (vgl. S. 115). In freier Komposition und Spiel kann es gelingen, sich in eine namenlose Totalität einzuschreiben und, statt in ihr aufzugehen, als Singuläres einen Einschnitt in sie zu evozieren. Die von Legrand angedachte Psychoanalyse eröffnet den Spielraum, der diesen Einschnitt ermöglichen kann. Das Dire ist hier Bewegung nach außen, zu der anderen hin, zu der zweiten, die zuhört. Insofern wir uns nicht über reine Bewusstseinsakte gegenseitig gegeben sein können, muss die Verbindung zweier differenter Subjekte materieller Art sein, so die Überlegung. Nicht zuletzt findet sich an dieser Stelle eine originelle Lektüre des Lacan’schen Primat des Signifikanten, im Rahmen derer das Augenmerk von Legrand auf die Materialität der Sprache gelegt wird. Im Sprechen erscheint der Signifikant als Materielles: „Il s’agit de parler parce que la pensée n’est pas audible, parce que le signifié n’est pas accessible immédiatement et doit donc passer au dehors, dans l’espace matériel du signifiant.“ (S. 81). Ohne das Sprechen bleibt nur ein zirkulär auf sich selbst bezogener Bedeutungszusammenhang, der noch in der kreisenden Bewegung seinen Sinn verloren hat. Ohne das Sprechen ist das Subjekt zum solipsistischen Selbstgespräch verurteilt. Was es braucht, ist Sprache als Materielles, Äußeres, als Unterbrechung der Totalität. Denn: „dire est possible, tout en assumant que dire (le) tout est impossible.“ (S. 92)


Ecrire

Jene strukturelle Materialität der Sprache findet sich schließlich in Legrands Begriff der écriture: „Nous pensons ici l’écriture comme composition d’un espace hétérogène et c’est ainsi penser l’écriture que nous sert ici le mot extériorité.“ (S. 86) Die écriture ist für Legrand, wie für Derrida, „extériorité constitutive“ (S. 73) oder „marquage graphique de l’absence“ (S. 72) – eine Kennzeichnung oder Spur der Abwesenheit also, weder aber die Abwesenheit selbst noch deren Symbol. Insofern sind sowohl das Sprechen als auch das Zuhören Formen der écriture – insofern nämlich als dass sie sich in den psychoanalytischen Raum einschreiben (vgl. S. 89). Oder genauer: Die Psychoanalyse selbst ist écriture (vgl. S. 75) – in dem Sinne, dass sie der heterogene Raum ist, in dem mit An- und Abwesenheit gespielt und komponiert werden kann.


Survivre

Von diesem feingliedrigen, begrifflichen Gerüst ausgehend, widmet sich Dorothée Legrand schließlich der Untersuchung zweier klinischer Strukturen – Melancholie und Anorexie. Dreh- und Angelpunkt sind auch hier die zwei Formen der absences – im Plural, wobei sich der jeweilige Umgang mit ihnen bei den beiden Krankheitsbildern divergent unterscheidet: „Dans une mélancolie, l’absence est toute.“ (S. 193) Die Abwesenheit regiert über die Melancholikerin. Kein Spiel, keine Komposition, keine Antwort scheinen möglich. Anders die Anorektikerin: Sie stellt sich der absence invivable entgegen, wehrt sich gegen sie – und setzt dabei doch wieder ihr Leben aufs Spiel.

Die Dringlichkeit der Legrand’schen Bestimmungen tritt hier offen zutage. Das Spiel mit der absence ist kein terminologisches. Es ist ein Spiel, das über Leben und Tod entscheidet. Die Hinwendung zur Klinik ist die Grundlage für die Frage: Comment survivre à l’absence? Legrand: Im Sprechen zu jemandem, der zuhört, ohne zu urteilen, zu jemandem, für den die Worte der Sprechenden mehr sind als Hintergrundgeräusche eines schon geschriebenen, schon unterschriebenen Diskurses. Epoché.


*


Die anorektische Patientin spricht zu jemandem. Sie sagt: „Meine Anorexie ist kein langsamer Tod. Sie ist vital.“ Die andere, die Adressierte, könnte erwidern, dass die Hungernde sich der Wahrheit entziehe. Dass nichts am drohenden Hungertod vital sein kann (vgl. S. 143 f.). Die anorektische Patientin sagt auch, sie sei „gros, trop gros, trop [dick, zu dick, zu viel]“ (S. 160). Die andere, die Adressierte, könnte erwidern, dass die Hungernde sich der Wahrheit entziehe. Schließlich sei die Patientin weniger als mager, verschwindend, nicht zu viel, sondern nicht genug. Hier hält Legrand inne und zeigt, was geschieht, wenn wir, anstatt diese Aussage vorschnell abzutun, genau zuhören. Wie lässt sich eine Anorexie (auch hier gilt: der allgemeine Wahrheitsanspruch ist zu meiden) als gleichermaßen vital wie tödlich verstehen? Wie ist es möglich, dass genau da, wo der Tod sich ankündigt, auch das Überleben sich seinen Weg zu bahnen weiß? Welche Abwesenheit ist hier im Spiel? „Toujours trop, pour une anorexique, tout est toujours trop“ (S. 166). Das „zu viel“ der Anorexie wird von Legrand ernst genommen. Die Anorexie als Kampf gegen das „zu viel“ wird von ihr als Überlebensversuch gewertet – als Überlebensversuch im Kampf gegen die Abwesenheit von Abwesenheit – gegen eine überfließende, grenzenlose Totalität, die das singuläre Subjekt in sich aufnimmt und verschluckt: „L’anorexie serait alors une manière de survivre à l’absence d’absence, ce serait une manière de contrer l’absence d’absence par l’absence.“ (S. 161) Ein Überleben der Abwesenheit von Abwesenheit – durch Abwesenheit. Das bedeutet: Die totalitäre letale Abwesenheit überleben – mithilfe der vitalen Abwesenheit (vgl. S. 160). Im genauen Zuhören erweist sich die Anorexie so als eine „invitation de l’écriture, et elle ferait de l’écriture un corps.“ (S. 168) Die Anorektikerin macht aus der Schrift einen Körper; sie schreibt einen singulären Körper in die Totalität ein – und bricht mit ihr. So ist es zu verstehen, wenn Legrand feststellt, das Subjekt spreche mit (s)einem Körper (vgl. ebd.). Ein Sprechen, das ein materielles ist, ein Schreiben.

Wie aber kann ein Überleben tödlich sein? Für Legrand ist der anorektische Überlebenskampf zum Scheitern verurteilt, da hier versucht wird, alleine, auf sich gestellt, zu schreiben. Die Anorexie ist eine Art Selbstbehandlung (vgl. S. 169), die nicht funktionieren kann, weil das Schreiben eine Bewegung nach außen sein muss, eine Adressierung. Doch gerade weil die Anorektikerin zum Scheitern verurteilt ist, kann sie nicht anders als ihre Anstrengungen immer wieder zu wiederholen. Il „faut essayer encore, mourir encore.“ (S. 169)


Damit das Überleben keine tausend Tode voraussetzt, damit es irgendwann gelingen kann, braucht es zwei: Eine erste, die spricht. Und eine zweite, die zuhört.