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Die Phänomenologie und das Politische

Tagung der deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung

Hagen, 13 - 16 September 2017

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Die Gegenwart politisiert sich. Die Krise Europas, die Konjunktur des Populismus, Flucht und Migration sowie die Rolle der internationalen Finanz- und Ordnungssysteme haben die politischen Verhältnisse wieder auf die Tagesordnung gesetzt. Klassische und postklassische phänomenologische Ansätze tragen vielfach zur Erschließung, Analyse und Problematisierung des Feldes des Politischen bei, auch wenn die Phänomenologie hier an ihre Grenzen getrieben wird.

Mit ihrer Fokussierung auf die Erfahrungsperspektive erlauben phänomenologische Ansätze einen Zugriff auf politische Haltungen, Einstellungen und Affekte, die sie in ihrer Genese und Charakteristik zu durchdringen vermögen. Sie lenken das Augenmerk auf die Genese politischer Institutionen und Prozesse. Ihre Analysen des politischen Raumes zeigen auf, unter welchen Bedingungen Subjekte überhaupt erst als Akteure erscheinen und ihre Stimme erheben können. Ihre postfundamentalistische Herangehensweise erlaubt es, politische Kämpfe und Wandlungsprozesse begrifflich systematisch zu fassen. Und schließlich legt die Phänomenologie ethische und praktische Aporien und Paradoxien frei, die mit der Konstitution des politischen Raumes unvermeidlich einhergehen. Die Tagung diskutiert das Problemfeld mit internationalen GastrednerInnen sowie in acht thematischen Sektionen.

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Sektion I: Genealogie – Genese – Konstitution der politischen Welt

(Sektionsleitung: Karl Mertens, Würzburg)

Nach Hannah Arendt ist das Politische ein Weltbereich, in dem Menschen primär als Handelnde auftreten. Im Kontext konstitutionsphänomenologischer Überlegungen führt dieser Ansatz zur Frage nach der Möglichkeit der Bildung politischer Institutionen: Wie gelingt es von Individuen vollzogenen Handlungen eine die menschliche Praxis bestimmende Sphäre von überindividueller Bedeutung herzustellen? Lassen sich die Sphären des öffentlichen Lebens, überindividuelle Praktiken, institutionelle Ordnungen und Strukturen im Rekurs auf das bewusste Erleben, die Erste-Person-Perspektive oder gar die transzendentale Subjektivität zureichend erfassen? Ist darüber hinaus auch ein Verstehen des Politischen in drittpersonaler Perspektive möglich? Wo liegen gegebenenfalls die Grenzen einer Phänomenologie des Politischen?

Sektion II: Leib – Körper – Stimmungen

(Sektionsleitung: Tobias Klass, Wuppertal)

Die Verflechtung des Leibes in das Feld des Politischen beginnt mit der Bestimmung einer politischen Einheit als „corps social“, setzt sich fort in der politischen Diskussion rund um bioethische Fragen wie Präimplantationsdiagnostik oder Stammzellenforschung und reicht bis zu Fragen des Gender-Mainstreaming und der leiblichen Dimension von Kategorien wie race, class oder gender. Die Sektion will sich ausgehend von der phänomenologischen Leib/Körper-Unterscheidung auf Ordnungen, Techniken und Disziplinierungen konzentrieren, die dem Raum des Politischen zu Grunde liegen.

Sektion III: Gewalt – Schmerz – Leiden

(Sektionsleitung: Michael Staudigl, Wien)

Die Sektion fragt nach den Möglichkeiten der Phänomenologie, verschiedenste Phänomene der Gewalt umfassend zu erforschen. Besonderes Augenmerk gilt dabei der Weise, in der tradierte Auffassungen menschlicher Verletzlichkeit, Erfahrungen des Leidens und Symbolisierungen von Schmerz den sozialen Sinn und die gelebte Praxis von Gewalt bestimmen. Wie mit dem unaufhebbaren Faktum menschlicher Verletzlichkeit umgegangen wird, wie es gelebt und sinnhaft artikuliert wird und wie diese Sinnzuschreibungen in eins auf die Konstitution des Politischen wirken, soll dabei beispielhaft mit Bezug auf ausgewählte Phänomene der Gewalt beschrieben und kritisch diskutiert werden.

Sektion IV: Affekte – Gefühle – Leidenschaften

(Sektionsleitung: Iris Därmann & Kathrin Busch, Berlin)

Gefühle sind keine Privatangelegenheit. Als Bindungs- und Trennungskräfte bringen sie politische Ordnungen in Aufruhr und Bewegung. Hass, Ekel und Angst werden als politische Intensivierungstechniken des gewaltsamen Ausschlusses Anderer genutzt. Trauer, Leid und Ohnmacht können sich als affektive Kräfte politischen Widerstands erweisen. Im Mittelpunkt steht das In- und Auseinander von Politischem und Politik aus gefühlsphänomenologischer Perspektive. An welchen Gefühlen richtet sich das Politische aus und mit welchen Gefühlen rechnet wiederum die Politik? Inwiefern sind Gefühle (wie die Liebe) und Gefühlspraktiken unverzichtbar für das politische Bindegewebe und können es zugleich exzessiv bedrohen? Ist die Affizierbarkeit durch Andere und Anderes bereits ein spezifischer Modus politischer Affektivität im Sinne einer vita passiva, die als konstitutiv für die vita activa gelten kann?

Sektion V: Macht – Herrschaft – Unterdrückung

(Sektionsleitung: Christina Schües, Lübeck)

Strukturelle Macht und die Ausübung von Herrschaft, das Erleiden von Unterdrückung und die Erfahrung des Ausgeschlossenseins aus dem gesellschaftlichen Bereich stellen Herausforderungen dar, die dazu aufrufen, Ansätze einer politischen Phänomenologie zu entwickeln. Die Partizipation in der Demokratie sowie der Widerstand in nicht-demokratischen Gesellschaften bedürfen epistemischer Ressourcen. Doch wie können aus phänomenologischer Perspektive die Ausgrenzung von Wissenspraktiken, das Fehlen von Sprache, das Nicht-Gehörtwerden, die Unterdrückung oder Machtstrukturen selbst beschrieben werden?

Sektion VI: Kultur – Demokratie – Zivilisation

(Sektionsleitung: Georg Stenger, Wien)

Kultur, Demokratie und Zivilisation dienen oftmals als „Kampfbegriffe“, anhand derer identifikatorische resp. essentialistische Zuschreibungen vorgenommen werden. Dagegen soll im Ausgang von einer phänomenologischen Konstitutionsanalyse danach gefragt werden, wie es überhaupt zu diesen Begriffen und den mit ihnen verbundenen Verständnissen und Zuschreibungen kommt. Im Zuge dessen erscheint es möglich, „Normativität“ und „Genese“ nicht länger gegeneinander auszuspielen. Perspektivisch legen sich daher folgende Fragestellungen nahe: Gibt es eine konstruktive Responsivität zwischen den drei Begriffen resp. Denkräumen, die von alters her für bestimmte Ordnungsmuster stehen? Grenzen sie sich gegenseitig stärker voneinander ab, wie es die historische Entwicklung in beinahe allen Kulturen nahezulegen scheint? Oder sind sie von Anfang an so ineinander verstrickt, dass „das Politische“ gänzlich aus dem Blickwinkel zu geraten droht?

Sektion VII: Offene – unmögliche – kommende Gemeinschaft

(Sektionsleitung: Matthias Flatscher, Wien)

In produktiver und zugleich kritischer Auseinandersetzung mit der klassischen Phänomenologie loten neuere Ansätze einen anderen Begriff von Gemeinschaft aus. Dieser wird als „uneingestehbare“ (Blanchot), „entwerkte“ (Nancy) oder auch „kommende“ (Agamben) Gemeinschaft bezeichnet, um jeder Form von Essentialismus einen Riegel vorzuschieben und ihr nicht-identitäres Verständnis zu akzentuieren. In der Sektion sollen die Diskurse, die den Versuch unternehmen, Gemeinschaft auf diese offene Weise zu „gründen“, zu Wort kommen, um zugleich Implikationen für eine Revision des Politischen zu diskutieren und konkrete Konsequenzen aufzuzeigen.

Sektion VIII: Kunst – Medien – Politik

(Sektionsleitung: Christian Grüny, Witten)

Das Politische ist das große Thema gegenwärtiger künstlerischer Produktion. Im Mittelpunkt der Sektion soll die Frage nach den Formen des Politischen in den Künsten stehen, die eng mit der Rolle der Phänomenologie in der Kunsttheorie zusammenhängt. Die Phänomenologie ist dort am stärksten, wo wahrnehmungsbezogene Formen den Fokus künstlerischer Gestaltung bilden; je stärker konzeptuelle und aktivistische Züge hervortreten, desto weniger scheint sie gefragt. Wie schätzen Künstler- und Theoretikerinnen der verschiedenen Disziplinen die Möglichkeiten und die Produktivität eines phänomenologischen Zugangs ein?