Repository | Book | Chapter

220241

(1993) Die literarische Moderne in Europa 1, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften.

Metaphern des Ich

Rudolf Behrens

pp. 334-356

In dem Roman Pirandellos, der in Benjamins Essay Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit zu einem Kronzeugen für die These vom Verlust der Aura gemacht wird, ist an einer Stelle die Rede von der Metapher des Ich. Wenn man sich nur "(...) für einen Augenblick von dieser Metapher des eigenen Ich befreien könnte, die sich unweigerlich aus unseren zahllosen, bewußten und unbewußten Rollen ergibt", heißt es in Die Aufzeichnungen des Kameramanns Serafino Gubbio (1915/25), "(...) dann würde man sofort bemerken, daß dieser Er ein anderer ist, ein anderer, der mit ihm selbst wenig bis gar nichts zu tun hat."1 Die Aufsplitterung des Ich in zahllose Facetten, Rollen und Schichten war bis dahin schon vielfach von Pirandello in seinem Theaterwerk und in seiner Erzählprosa vorgeführt worden. Wenn er hier die Konzeption des Ich, das nur in einer Metapher zusammengehalten wird, aufruft, so ist dies 1915 schon fast eine abgegriffene Polemik gegen einen substantialistischen Subjekt-Begriff. Sigmund Freuds Entdeckung der "Topologie" des Unbewußten und damit die Auffächerung des Ich in einzelne ‚Regionen" liegt immerhin schon einige Jahre zurück. Die dritte narzißtische Kränkung, die die moderne Anthropologie nach der "kopernikanischen Wende" und Darwins Evolutionstheorie in der Behauptung sehen kann, das Ich sei ‚nicht Herr im eigenen Haus",2 hatte also längst ihren Anfang genommen. Georg Simmels These von der "Achsendrehung im Begriff des Menschen",3 1907 in Hinblick auf Schopenhauers Willenslehre formuliert, evoziert dieses Bild der ‚kopernikanischen Wende", die Pirandello selber wiederum in seinem Roman Il fu Mattia Pascal (1904) als eine erste Verunmöglichung des Erzählens vom menschlichen Subjekt ausgewiesen hatte. Simmel weist damit auf einen Ahnherrn, der schon zu Beginn des Jahrhunderts Kants Behauptung, ein "Ich denke" müsse alle unsere Vorstellungen begleiten, mit dem Satz beiseite geschoben hatte: "(...) das Ich ist eine unbekannte Größe, d.h. sich selber ein Geheimnis."4 Friedrich Nietzsche, seinerseits wieder ein Vordenker für Pirandellos Theorie des gespaltenen Ich im Umorismo-Essay (1908), hatte dem längst kursierenden Theorem von den pluralen Dimensionen des Ich, wie sie sich in der französischen Psychiatrie des fin de siècle bei Alfred Binet und Théodule Ribot darstellen, in Der Wille zur Macht (1901) dann die entscheidende Wendung gegeben, die die Rede von der Metaphorizität des Ich erst ermöglicht: Die Einheit des menschlichen Charakters, der als Konglomerat und Schnittpunkt unterschiedlicher Triebe, Regungen und Bewußtseinsbilder bestehe, sei "nur als Organisation und Zusammenspiel Einheit". Es handle sich folglich um "ein Herrschaftsgebilde, das Eins bedeutet, aber nicht Eins ist." 5 Mit anderen Worten: Unter dem Zwang zur lebensnotwendigen Fiktionsbildung sind Begriffe wie Charakter, Subjekt und Ich nur Signifikanten. Sie verweisen von weitem auf eine Einheit ihres Signifikats. Über eine sprachliche Deviation stellt sich nur der Eindruck eines Ganzen her, die Sache selbst ist als ein Integral ganz ungedeckt.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-322-93604-2_14

Full citation:

Behrens, R. (1993)., Metaphern des Ich, in S. Rothemann, H. J. Piechotta & R. Wuthenow (Hrsg.), Die literarische Moderne in Europa 1, Wiesbaden, Verlag für Sozialwissenschaften, pp. 334-356.

This document is unfortunately not available for download at the moment.