Repository | Book | Chapter

218454

(1990) Geschichte als Literatur, Stuttgart, Metzler.

Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung

Leopold von Ranke

Jörn Rüsen

pp. 1-11

Eine Frage nach »Geschichte als Literatur« widerstrebt dem fachlichen Selbstverständnis der Geschichtswissenschaft. Die Historiker und Historikerinnen verstehen sich als Wissenschaftler und nicht als Literaten und ihr Tun als Wissenschaft und nicht als Kunst. Andererseits kann aber nicht geleugnet und übersehen werden, daß das Produkt dieser wissenschaftlichen Tätigkeit Texte sind, die als Literatur verstanden und interpretiert werden können. Zwischen der Betrachtung der Geschichtsschreibung als Literatur und dem Selbstverständnis ihrer Autoren als Wissenschaftler gibt es ein Spannungsverhältnis, das bis zu einem Widerspruch gesteigert werden kann. Diese Spannung ist nicht neu, sondern hat die Entwicklung der Geschichtswissenschaft von ihren Anfangen bis zur Gegenwart begleitet. In jüngster Zeit hat sie eine eigenartige Ausprägung gefunden: Sie trägt sich als Alternative zwischen einer modernen und einer postmodernen Auffassung von Geschichtsschreibung aus. Die moderne Auffassung betont ihren Forschungsbezug: Geschichtsschreibung präsentiert ein historisches Wissen, das durch methodisch geregelte empirische Forschungsprozesse gewonnen wird und sich daher durch die wissenschaftsspezifische Qualität methodischer Rationalität ausgezeichnet. Die postmoderne Auffassung betont die Gestaltungskraft, mit der Autoren historisches Wissen formen und ihr Publikum ansprechen und die der Geschichtsschreibung eine primär poetische oder rhetorische Qualität verleiht. In der aktuellen geschichtstheoretischen Debatte darüber, was die für das historische Denken und die Geschichtsschreibung maßgeblichen Faktoren und Prozeduren des menschlichen Bewußtseins eigentlich sind, treten diese beiden Auffassungen als scharfe Gegensätze hervor, so daß die Wissenschaftlichkeit auf Kosten des literarischen Charakters und umgekehrt der literarische Charakter auf Kosten der Wissenschaftlichkeit der Geschichtsschreibung geht.

Publication details

DOI: 10.1007/978-3-476-03341-3_1

Full citation:

Rüsen, J. (1990)., Rhetorik und Ästhetik der Geschichtsschreibung: Leopold von Ranke, in H. Eggert, U. Profitlich & K. R. Scherpe (Hrsg.), Geschichte als Literatur, Stuttgart, Metzler, pp. 1-11.

This document is unfortunately not available for download at the moment.