Reflexion, Interview

Die Phänomenologie und das Politische: Von der Onto-Politik zu Mini-Publics, Interview mit Steffen Herrmann

Selin Gerlek

4th September 2017

Interview mit Steffen Herrmann, dem Generalsekretär der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung (DGPF), der zusammen mit dem Präsidenten der Gesellschaft, Thomas Bedorf, die diesjährige Jahrestagung der DGPF zum Thema „Die Phänomenologie und das Politische“ organisiert.


SG: Du arbeitest nun schon einige Jahre mit Thomas Bedorf zusammen und 2015 kam nun Deine Position als Generalsekretär der DGPF hinzu. Eine Aufgabe in diesem Amt ist es, mit dem Präsidenten gemeinsam ein Thema für den im 2-jährigen Turnus stattfindenden Kongress zu finden. Wie kam die Idee zustande, diesen auf das Thema des Politischen zu fokussieren?

SH: So ein Thema wird natürlich nicht über Nacht geboren, sondern es entwickelt sich aus Kontexten heraus. In unserem Fall sind dabei unterschiedliche Einflussfaktoren zusammengekommen. Was im Besonderen die gemeinsame Arbeit zwischen mir und Thomas Bedorf betrifft, arbeiten wir schon länger über die unterschiedlichen Knüpfungsweisen des sozialen Bandes, was uns immer mehr ins Feld der politischen Philosophie getrieben und die Frage mit sich gebracht hat, was die Phänomenologie hier zu leisten in der Lage ist.

Dabei konnten wir feststellen, dass die Verbindung zwischen Phänomenologie und Politik in den letzten Jahren zunehmend zum Gegenstand der Forschung geworden ist. Denn nicht nur gibt es aus der Gesellschaft heraus klassische Monographien zum Thema (Klaus Held), sondern auch eine ganze Reihe von aktuellen Editionen (Lester Embree, Michael Staudigl) und Aufsätzen (Marc Richir, Natalie Depraz). Und als ob das nicht schon die Aktualität des Themas erweisen würde, ist just in diesem Jahr noch eine Edition mit dem Titel „Phenomenology and the Political“ erschienen. All diese Arbeiten machen deutlich, dass es in der Auseinandersetzung mit dem Politischen für die Phänomenologie begriffliche und systematische Fragen zu erforschen gilt.

Darüber hinaus haben natürlich die politischen Entwicklungen in unserer Amtszeit das ihrige getan: der drohende Zerfall Europas und das damit verbundene Scheitern der Idee der Pluralität; die scheinbar allgegenwärtige Demokratiemüdigkeit, die als Rückseite einen neue Form des Populismus hervorgebracht hat und die Frage der Menschenrechte und der Hospitalität, welche Flucht und Migration weiterhin stellen – das alles verlangt nicht nur nach tagespolitischen Lösungen, sondern auch nach einer substanziellen philosophischen Aufarbeitung.

SG: Damit weist Du auf sehr aktuelle Themen hin. Nicht zuletzt arbeitest Du derzeit ja auch zu solchen Fragen. Wie lässt sich aus Deiner Sicht mit der Phänomenologie hier ansetzen? Wie lässt sie sich zu gegenwärtigen politischen Problemlagen in Stellung bringen?

SH: Ein gutes Beispiel für die Aktualität phänomenologischer Analysen sind Hannah Arendts Überlegungen zum Verhältnis von Wahrheit und Lüge in der Politik, die im Zeitalter der „Postfaktizität“ und der „alternativer Wahrheiten“ eine Relektüre wert sind. Die Politik steht für Arendt ja immer in einem losen Verhältnis zur Wahrheit, weil es in der Politik stets darauf ankommt, wie wir etwas deuten: Stellen etwa die Ausschreitungen im Zuge des G20-Gipfels in Hamburg einen Akt des politischen Ungehorsams dar oder sind sie bloße unpolitische Krawalle? Um diese Frage zu beantworten, können wir nicht einfach Experten befragen, die uns mit den Mitteln der empirischen Sozialforschung abschließende ‚Wahrheiten’ offenbaren, sondern es handelt sich um Fragen der Weltdeutung, die sich nur im öffentlichen Austausch beantworten lassen. Arendt geht entsprechend von der Einsicht aus, dass sich Politik nicht auf die Frage von Tatsachenwahrheiten reduzieren lässt.

Die lose Kopplung zwischen Politik und Wahrheit kann nun jedoch zur Folge haben, dass sich die Politik immer weiter von der Idee der Wahrheit entfernt. Mehr noch: Für Arendt neigt die Politik von sich aus immer schon zur Lüge – zur Ablösung jeglicher Deutung von Tatsachenwahrheiten. Das eigentliche Problem der Politik besteht für Arendt nun aber gar nicht darin, dass einzelne politische Individuen lügen, sondern darin, dass durch die Mittel der Meinungsmanipulation der Unterschied zwischen Wahrheit und Lüge überhaupt eingeebnet wird. Dadurch verlieren wir dann unseren Orientierungssinn in der Welt, werden zunehmend gleichgültig und ziehen uns ganz von der Auseinandersetzung mit politischen Fragen zurück. Kurz gesagt: Arendt hat den Prozess der Depolitisierung, der mit dem neuen Populismus verbunden ist, schon Ende der 1960er Jahre vorausgesehen – freilich ohne die immensen medientechnischen Mittel zu kennen, mittels derer heute die Trennlinie zwischen Wahrheit und Meinung immer weiter verwischt wird.

SG: Mit Arendt hast Du eine prominente Vertreterin der phänomenologischen politischen Philosophie ins Spiel gebracht. Lässt sich an ihren zeithistorischen Erfahrungen vielleicht besonders gut zeigen, welche Spuren das Politische in der Phänomenologie hinterlassen hat?

Ich denke ja. Nicht nur hat die Erfahrung des Nationalsozialismus Arendt ja dazu geführt, ihr epochales Werk über die Elemente und Ursprünge des Totalitarismus vorzulegen, in dem Bürokratie und Massenherrschaft als Voraussetzungen totaler Herrschaft ausgemacht werden, sondern auch dazu, sich von den Überlegungen Heideggers entscheidend zu lösen. Bei Heidegger hat das Politische ja noch gar keinen Platz: Die Sphäre der Öffentlichkeit ist für ihn die Sphäre des Man und der Durchschnittlichkeit, gegen die der Einzelne seine Eigentlichkeit ausbildet. Bei Arendt verhält es sich genau umgekehrt: Im Anschluss an die griechische Polis versteht sie die Öffentlichkeit als den Ort, an welchem der Einzelne zu sich selbst kommen kann. Mehr noch: Öffentlichkeit ist der Ort an dem wir die Erfahrung des „acting in concert“ machen können, indem wir uns mit anderen zusammenschließen. Die Öffentlichkeit ist für Arendt daher nicht ein Ort der Ohnmacht, sondern ein Ort der Macht. Es ist eben diese Öffentlichkeits-Konzeption Arendts, die als Resultat ihrer Auseinandersetzung mit dem Totalitarismus verstanden werden kann und die ihr Denken seither weit über die Phänomenologie hinaus als anschlussfähig erwiesen hat.

SG: Gibt es etwas, was Du als spezifisches Charakteristikum der Phänomenologie des Politischen ausmachen würdest?

Das ist so allgemein natürlich schwierig zu sagen, aber mit etwas Chuzpe würde ich behaupten, dass die Phänomenologie des Politischen bisher immer Ontopolitik war. Was damit gemeint ist, wird schnell klar, wenn man sich beispielsweise den Existenzialismus ansieht. Sartres ganze Philosophie der Freiheit fußt ja auf der Unterscheidung von Faktizität und Transzendenz, wobei wir im Alltag stets auf dem dünnen Grad balancieren, auf dem beide ineinander übergehen. Verlieren wir das Gleichgewicht und verstehen uns selbst entweder ausschließlich vor dem Hintergrund unserer Faktizität oder unserer Transzendenz, kommt es zu dem, was Sartre „Unaufrichtigkeit“ nennt. Unaufrichtig ist für ihn vor diesem Hintergrund nicht einfach ein individuelles psychologisches Phänomen, sondern Ausdruck eines existenziellen Spannungsverhältnisses. Und eben dieses Spannungsverhältnis macht der Existenzialismus dann in seinen politischen Analysen produktiv.

In seinen „Überlegungen zur Judenfrage“ etwa benutzt Sartre das Vokabular von Faktizität und Transzendenz nicht nur für die Analyse der Situation des Antisemiten, der sich aus Furcht vor der Freiheit auf seine bloße Faktizität zurückzieht, sondern auch für die Analyse der Situation der Jüdinnen und Juden, die er davor warnt, in abstrakte Selbstentwürfe zu fliehen und sich damit als reine Transzendenz zu verstehen. Stattdessen legt Sartre ihnen nahe, sich den antisemitischen Stereotypen als Jüdinnen und Juden zu stellen und so Faktizität und Transzendenz zu versöhnen. Ganz ähnlich macht es im übrigen Simone de Beauvoir, die das Begriffsregister von Immanenz und Transzendenz nutzt, um die Situation der Frau in den 1940er Jahren zu beschreiben. Sie geht davon aus, dass die Frau vom männlichen Blick ihrer Transzendenz beraubt und auf ihre Faktizität festgelegt wird – sie wird zur „transzendierten Transzendenz“ und dient als Spiegelbild männlicher Macht. Der Mann ist das Absolute, die Frau das supplementäre Andere.

Was den phänomenologischen Analysen von Sartre und Beauvoir gemeinsam ist und was sie in meinen Augen paradigmatisch für eine Ontopolitik macht, ist, dass sie auf einer phänomenologischen Ontologie aufbauen, in welche von vornherein gewisse existenzielle Spannungsmomente eingetragen sind, die dann im Nachhinein für die Beschreibung aktueller politische Konflikte nutzbar gemacht werden. Das führt einerseits zu faszinierenden und eindringlichen Analysen, bringt andererseits aber das Problem mit sich, dass nur ganz bestimmte politische Konflikte in den Blick kommen und die konkreten zeithistorischen Umstände vernachlässigt werden.

SG: Ein wenig erwecken Deine Schilderungen den Eindruck, dass es einer Phänomenologie der Politischen gerade um das Denken des Heute gehen muss. Kann man das so sagen? Und: Vor welchen Aufgaben steht die Phänomenologie des Politischen sodann heute?

Ich denke, dass viele phänomenologisch inspirierte Ansätze sich heute noch im Paradigma der Ontopolitik bewegen. Deutlich wird das an den so genannten postfundamentalistischen Theorien des Politischen (Laclau, Lefort, Nancy, Rancière). Im Unterschied zum Existenzialismus fragen diese nicht mehr nach ontologischen Spannungsverhältnissen in der individuellen Existenz, sondern danach, wie das Feld ontologischer Entitäten überhaupt strukturiert ist. Für Sartre beispielsweise war es gar keine Frage, dass das Auftauchen des Anderen – sei es der Objekt-Andere oder der Subjekt-Andere – immer eine Dezentrierung meiner Welt bedeutet. Aus der Sicht der zuvor genannten Ansätze stellt sich dagegen die Frage, wer überhaupt als Anderer aufzutauchen vermag. Und diese Frage ist eben keine epistemische Frage, sondern eine politische Frage: Es ist nicht die Frage, woher ich weiß, dass der Andere ein Anderer ist, sondern die Frage danach, wessen Stimme zu einem bestimmten Zeitpunkt zählt, welches Angesicht spricht und welche Geste eine Antwort hervorrufen kann.

Ralph Ellison hat in Der unsichtbare Mann diese Form der sozialen Unsichtbarkeit aus der Sicht eines Schwarzen in einer weißen Mehrheitsgesellschaft in den USA der 1950er sehr plastisch beschrieben. Mit dem anschließenden Auftauchen des Civil Rigths Movements beginnt sich diese Lage dann zu ändern. Ziel der Bürgerrechtsbewegung ist ja nicht nur die materielle, sondern auch die soziale Teilhabe. Es geht darum, dass Stimme und Angesicht von Schwarzen in der Öffentlichkeit gehört und gesehen werden und politische Gestaltungsmacht erlangen können. Mit Postfundamentalismus wird die Ontologie also nicht einfach politisiert wie im Existenzialismus, sondern die Ontologie selbst wird als Resultat politischer Kämpfe verstanden.

So produktiv diese Blickwendung durch postfundamentalistische Ansätze derzeit ist, so scheint sie mir doch ihre eigenen Beschränkungen mit sich zu bringen. Deutlich wird das an der hier oftmals getroffenen Unterscheidung zwischen ‚dem Politischen’ und ‚der Politik’, wobei die Politik das öde, langwierige Alltagsgeschäft politischer Aushandlungsprozesse zwischen Parteien meint, während das Politische für das spontane, leidenschaftliche Ereignis des politischen Umbruchs steht. Konzentriert man sich lediglich auf letzteres, dann besteht die Geschichte des Politischen aus wenigen Daten wie etwa 1789, 1871 oder 1918. Ich denke, dass Hannah Arendt in ihrem Buch Über Revolution aber schon sehr deutlich darauf insistiert hat, dass jede Revolution zwei Seiten hat: Das Moment der Gründung und das Moment der Verstetigung. Und es ist ja gerade das zweite Moment, an dem für sie Revolutionen regelmäßig gescheitert sind. Zu den Aufgaben einer Phänomenologie des Politischen gehört daher die Frage, wie sich der revolutionäre Geist in den Institutionen des Alltags gegenwärtig halten lässt – und eben diese Aufgabe scheint mir derzeit dringlich zu sein. Es gilt den Überstieg von den großen Erfahrungen des Politischen hin zu den kleinen Erfahrungen der Politik zu machen. Arendt hat diesbezüglich ja immer das Modell der Räte vor Augen gehabt. Das mag man heute als romantisch abtun, aber die Diskussion über so genannte ‚mini-publics’, wie Sie derzeit in der politischen Philosophie geführt wird, führt von der Grundidee her in eine ganz ähnliche Richtung, insofern es darum geht, wie die genuin politische Erfahrung des gemeinsamen öffentlichen Urteilens und Handelns sich im Alltag lebendig halten lässt.

SG: Du sprichst es gerade an: Was hat die Phänomenologie zur gegenwärtigen Debatte in der politischen Philosophie Genuines beizutragen? Gibt es vielleicht einen Zugriff auf das Politische und die Politik, die sich nur mit phänomenologischen Mitteln denken lässt?

Seit Rawls orientiert sich der politische Liberalismus am Diktum des Vorrangs des Gerechten vor dem Guten. Vielfach ist dafür argumentiert worden, dass die damit einhergehende Privatisierung der Idee des Guten zu einer gesellschaftlichen Depolitisierung geführt hat, insofern sie den Streit als Medium der Auseinandersetzung aus dem öffentlichen Leben verbannt hat. Wenn man sich nun jenen Positionen anschließen möchte, die Rawls’ Diktum nicht einfach hinnehmen, sondern die Frage nach dem Guten erneut als öffentliche Frage stellen wollen, dann kann die Phänomenologie ein wirkmächtiges Mittel sein, etwas über gelingende Weltbeziehungen auszusagen. Ein inspirierender Versuch in diese Richtung lässt sich bei Hartmut Rosa finden, der in seiner letzten Monographie Resonanz ausgehend von der Phänomenologie die Frage nach gelingenden Weltbeziehungen stellt. Auch wenn man seinen Entwurf nicht in allen Belangen teilen muss, so weist er meiner Ansicht nach doch genau in die Richtung, die eine politische Phänomenologie beschreiten sollte: Nämlich danach zu fragen, wie sich ausgehend von phänomenologischen Grundbegriffen gelingende Welterfahrung und Weltaneignung beschreiben lässt. Zurecht scheint Rosa davon auszugehen, dass die Frage des gelingenden Lebens sich nicht nur an Ressourcen wie Bildung, Einkommen oder Freundschaften messen lässt. Die Frage nach dem Guten ist keine bloße Frage nach Gütergerechtigkeit, sondern eine existenzielle Frage. Interessanterweise tauchen hier auch vielfach abgewandelte Beispiel aus der phänomenologischen Tradition auf: etwa Sartres Beispiel der zwei Wanderer von denen der eine die Anstrengung beim Aufstieg zum Gipfel als belebende Herausforderung empfindet, während sie dem anderen wie eine unerträgliche Schwere erscheint. Die Pointe von Sartres Überlegungen besteht nun ja gerade darin zu sagen, dass es sich hier nicht einfach um kontingente Eindrücke handelt, sondern dass beide Erfahrungen auf einen Initialentwurf zurückgehen, durch den sich die beiden Wanderer für eine bestimmte Existenz entschieden haben. Was Rosa nun tut, ist die Frage danach zu stellen, unter welchen gesellschaftlichen Voraussetzungen die jeweiligen Weltentwürfe zustande kommen. In einem responsiven Verhältnis zur Welt zu stehen, das diese als Feld von Möglichkeiten und nicht von Unmöglichkeiten erscheinen lässt, ist nicht bloß eine Frage des individuellen Charakters, sondern eine Frage, welche Form der Weltbeziehungen unsere Gesellschaft fördert oder hemmt. Welche gesellschaftlichen Institutionen dazu systematisch beitragen können und wie wir uns politisch für diese einsetzen können, dafür die begrifflichen Mittel bereitzustellen, das deutlich zu machen, halte ich für die derzeitige Aufgabe einer politischen Phänomenologie.


Alle Informationen zur diesjährigen Jahrestagung der Deutschen Gesellschaft für phänomenologische Forschung (DGPF), die vom 13. bis zum 16. September 2017 an der FernUniversität in Hagen stattfindet, findet man hier.

Das Interview führte Selin Gerlek.